Die nächste Herausforderung der Covid-19-Krise

Vor dem Hintergrund der weltweiten Pandemie hat auch die Gefährdungsbeurteilung an Bedeutung gewonnen. Ein Leitfaden für berufliche Reisen wurde hierfür erstellt

Lesezeit: 6 Min.

29.06.2021

In vielen Ländern sind Kriminalität und andere Sicherheitsprobleme im vergangenen Jahr zurückgegangen. Dahinter stehen vor allem Vorsichtsmaßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie – Lockdowns und Ausgangssperren haben in vielen Bereichen zur Eindämmung beigetragen. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Sicherheitsprobleme verschwunden wären. Pandemiemaßnahmen wie die Impfstoff-Verteilung sind zwar für die Bekämpfung der Pandemie unerlässlich, lassen aber an vielen Orten die Emotionen hochkochen.

In dem Maß, in dem Geschäftsreisen wieder aufgenommen werden, sollten Unternehmen und ihre Mitarbeiter sicherstellen, dass sie mit den aktuellen Sicherheitsrisiken im In- und Ausland vertraut sind. Vor dem Hintergrund der weltweiten Pandemie hat auch die Gefährdungsbeurteilung an Bedeutung gewonnen. Einen Leitfaden speziell für berufliche Reisen und Entsendungen können Sie hier herunterladen. Einige Risiken für Unternehmen wie auch für einzelne Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter sind besonders hervorzuheben.

Soziale Unruhen und Falschinformationen

Obwohl Falschinformationen kein neues Phänomen sind, haben die zu Impfstoffen und zur Covid-19-Pandemie eine neue Qualität erreicht. Sie reichen von Anschuldigungen, der Mobilfunkstandard 5G löse die Viruskrankheit Covid-19 aus, bis zu Behauptungen, die Regierungen würden ihre Bürger mit Hilfe des injizierten Impfstoffs überwachen. Covid-19 hat Gerüchten und Verschwörungsmythen einen fruchtbaren Nährboden geboten. Kurzfristig können Falschinformationen zu Covid-19-Impfprogrammen ein Faktor für Unruhen sein – wenn sie aus der Impfgegner-Bewegung stammen oder auch von denen, die staatliche Vorschriften als Eingriff in persönliche Freiheiten sehen. Es gab bereits Sicherheitsvorfälle im Zusammenhang mit der Stimmungsmache der Impfgegner, zum Beispiel explodierte im März 2021 in einer autogerechten Covid-19-Testeinrichtung der niederländischen Stadt Bovenkarspel eine selbst gebaute Bombe.

Zusätzlich zu dieser Art von Angriffen haben Impfkampagnen Potenzial, in den kommenden Monaten pandemiebedingte soziale Unruhen zu verstärken. So könnte die Pandemiemüdigkeit an Orten, an denen die Impfungen weit fortgeschritten sind, zu Demonstrationen für die stärkere Lockerung von Einschränkungen führen. Relevante Auslöser für Proteste rund um Impfkampagnen können sein:

  • Berichte über die Einführung einer Impfpflicht: Obwohl bisher kein Land der Welt eine allgemeine Impfpflicht verhängt hat, haben falsche Gerüchte über eine unmittelbar bevorstehende Einführung in Großbritannien, Brasilien, den USA und anderen Ländern bereits zu Protesten geführt.
  • Einschränkungen für Ungeimpfte: Zumindest in den frühen Phasen von Impfkampagnen kann es sein, dass in einzelnen Ländern bestimmte Einrichtungen den Zutritt nur mit Impfnachweis gestatten. Internationale Reisen könnten ähnlichen Beschränkungen unterliegen – wie ein aktueller Leitfaden der International SOS Foundation zu den Fürsorgepflichten von Arbeitgebern unter Covid-19 zeigt, kann unter bestimmten Voraussetzungen sogar eine Impfpflicht greifen. Es besteht die Möglichkeit, dass Impfgegner-Gruppen und Bürgerrechtler solche Maßnahmen als Verletzung von Freiheitsrechten deuten, mit der Gefahr zusätzlicher Proteste.
  • Falsche Gerüchte über Todesfälle oder starke Nebenwirkungen von Impfstoffen: Die Versuche der Social-Media-Plattformen, die Verbreitung solcher Falschinformationen einzuschränken, können als Teil einer Verschwörung zur Unterdrückung der Wahrheit angesehen werden.
  • Berichte über die Eröffnung von lokalen Impfzentren: Die Eröffnung von Covid-19-Teststellen und Covid-19-Krankenhäusern hat bereits in mehreren Ländern zu Unruhen in den jeweiligen Gemeinden geführt, zum Beispiel in Elfenbeinküste und in den Niederlanden. Auch die Einrichtung von Impfzentren kann zu Protesten führen.

 

Korruption & politische Unruhen

Neben Bedenken zum Thema Impfungen hat die Unzufriedenheit über den Umgang der Regierungen mit der Pandemie das Potenzial, Proteste anzuheizen. Entsprechende Demonstrationen an verschiedenen Orten der Welt hatten für einige Regierungen bereits erhebliche Auswirkungen. Beispielsweise ist im Januar 2021 der mongolische Premierminister Khurelsukh Ukhnaa nach Protesten zurückgetreten, und in Brasilien gibt es seit Anfang des Jahres immer wieder Proteste gegen das Pandemie-Management der Regierung von Jair Bolsonaro. Relevante Auslöser für größere Proteste gegen Regierungen oder sogar Privatunternehmen können sein:

  • Ineffiziente Impfkampagnen: Proteste sind am wahrscheinlichsten in Ländern mit wachsender regierungsfeindlicher Stimmung, die außerdem zahlreiche Covid-19-Todesfälle verzeichnen. In Brasilien zum Beispiel gab es aufgrund des Ausmaßes der Krise große Demonstrationen.
  • Berichte über gehortete Impfstoffe und Medikamente: Proteste gegen Polizeigewalt und allgemein gegen die Regierung im Oktober und November 2020 in Nigeria führten zur Stürmung staatlicher Lagerhäuser. Zuvor hatte es Berichte gegeben, staatliche Behörden würden dort Vorräte horten. Weitere Proteste gegen zurückgehaltene Impfstoffe bleiben wahrscheinlich, insbesondere in Ländern mit hoher Korruption.
  • Korruptionsskandale im Zusammenhang mit Impfstoffverträgen und -verteilung: In Ländern mit einem hohen Maß an Korruption können Covid-19-bezogene Proteste auftreten. Zum Beispiel als Reaktion auf Berichte über die ungleiche Verteilung von Impfstoffen, etwa wenn Beamte eine höhere Priorisierung erhalten als Mitarbeiter des Gesundheitswesens oder besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen, wie es im Frühjahr 2021 im Libanon geschah. Oder Korruption im Zusammenhang mit der Vergabe staatlicher Aufträge an Organisationen, die für die Verteilung des Impfstoffs zuständig sind. Proteste gegen korrupte Praktiken bei der Vergabe von Aufträgen gab es während der Covid-19-Krise bereits unter anderem in Albanien, Bosnien und Herzegowina, Honduras, Kenia und Simbabwe.

 

Kriminalität

Nicht zuletzt dürfte Kriminalität in den kommenden Monaten eine erhebliche Sicherheitsbedrohung darstellen. Die Verteilung von Impfstoffen hat bereits die Aufmerksamkeit von Cyberkriminellen, Betrügern, lokalen Banden und transnationalen kriminellen Organisationen auf sich gezogen. Analysten haben eine deutliche Zunahme von Websites festgestellt, die die Begriffe „Coronavirus“ und „Impfstoff“ enthalten, von denen viele Ausgangspunkt für Malware- und Phishing-Angriffe sein dürften. Darüber hinaus wird die signifikante Zunahme der Ungleichheit und der Einkommensverluste, in vielen Fällen durch die Pandemie verursacht, wahrscheinlich zu einem Anstieg der Kriminalität führen, etwa wenn gefährdete Bevölkerungsgruppen kriminell werden, um zu überleben. Deutliche Beispiele dafür gibt es in Kolumbien, wo Mitglieder der ärmeren Landbevölkerung sowie venezolanische Flüchtlinge begonnen haben, im illegalen Bergbau, in der illegalen Forstwirtschaft, in Drogenproduktion und Drogenhandel zu arbeiten, die alle von kriminellen Gruppen kontrolliert werden. Auch das Risiko für Lieferketten dürfte in naher Zukunft zunehmen, zum Beispiel der Diebstahl medizinischer Frachtgüter. International SOS erwartet, dass das besonders in Lateinamerika zum Problem wird. Die Sicherung der Impfstoff-Lieferkette wird zur Herausforderung, wenn korrupte lokale Behörden und starke transnationale kriminelle Organisationen zusammentreffen. Beispielsweise stahlen Kriminelle im Oktober 2020 in Mexiko Tausende Ampullen mit Grippe-Impfstoffen, nachdem die Regierung eine bevorstehende Knappheit angedeutet hatte.

In den kommenden Monaten könnte die gestiegene Nachfrage nach Impfstoffen und anderen medizinischen Gütern auch zu LKW-Entführungen und -Diebstählen führen – unverändert die häufigste Taktik beim Diebstahl von Medikamenten – sowie zu einer Zunahme von Einbrüchen. Zu den Ländern, in denen 2019 und 2020 die meisten Arzneimitteldiebstähle aufgetreten sind, gehören Brasilien, Indien, Italien (insbesondere die Regionen Apulien und Kampanien), Mexiko und die USA. Mit Blick auf Covid-19-Impfstoffe ist es wahrscheinlich, dass dieser Trend anhält und sich in diesen Ländern eher noch verstärkt. Auch wenn die angesprochenen Sicherheitsprobleme gegenüber den medizinischen Problemen bisher etwas in den Hintergrund getreten sind, sollten Unternehmen sicherstellen, dass sie Sicherheitsfragen nicht aus den Augen verlieren. Belegschaften müssen mit zuverlässigen Informationen und entsprechender Schulung für den Umgang mit Risiken gerüstet sein. Die Fähigkeit ihrer Unternehmen, objektiv mit diesen Sicherheitsfragen umzugehen, ist von entscheidender Bedeutung, insbesondere in der Vorbereitung auf das Wiederanlaufen der Wirtschaft. Mögliche Lücken aufdecken, die Reaktionspläne optimieren und den Geschäftsbetrieb aufrechterhalten – an diesen Faktoren kommen Unternehmen in Zukunft nicht vorbei.  

Autor: Martin Bauer, Regional Security Manager für Deutschland und Österreich, International SOS

 

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Über den Autor: Redaktion Prosecurity

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