Die Transformation der nachrichtendienstlichen Wirtschaftsaufklärung
Die wirtschaftliche Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und China hat die Debatte über den strategischen Zweck der Modi der indirekten Konfrontation zwischen Weltmächten wieder in Gang gebracht
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07.08.2020
Die Tätigkeit der Geheimdienste wird seit langem verbunden mit dem Streben nach Macht und deren Eroberung sowie mit der militärischen Auseinandersetzung. Die wirtschaftliche Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und China hat die Debatte über den strategischen Zweck der Modi der indirekten Konfrontation zwischen Weltmächten wieder in Gang gebracht.
Verändert das Streben nach geoökonomischer Vormachtstellung über die Welt die Prioritäten der Geheimdienste? Schauen wir dazu erst einmal in die Vergangenheit. Im 20. Jahrhundert revolutionierte die ideologische Konfrontation zwischen Ost- und Westblock die Position und Aufgabe der Geheimdienste innerhalb der Regierungsapparate. Der Wille, das kapitalistische System zu zerstören, veranlasste die Anstifter der russischen Revolution, eine ganze Reihe neuer subversiver Ansätze zu entwickeln, die dann von den neuen Geheimdiensten kommunistischer Prägung umgesetzt wurden. Das ursprüngliche Ziel war es, das Prinzip der Weltrevolution zu verbreiten und die Stützpunkte des neuen Sowjetstaates zu stärken. So wurden jahrzehntelang Geheimdienstoperationen eines neuen Typs orchestriert, die sich insbesondere auf die Plünderung von technischem und dann technologischem Wissen konzentrierten. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist die Fantômas-Affäre in den frühen 1930er Jahren. Hierbei handelt es sich um einen Fall von militärischer und industrieller Spionage, die im Juni 1932 in Frankreich öffentlich wurde: Mit den sowjetischen Geheimdiensten und der Kommunistischen Partei Frankreichs auf der einen Seite und den französischen Geheimdiensten auf der anderen.
Für den französischen Historiker Georges Henri Soutou gilt, dass der Kalte Krieg dem Konzept des Wirtschaftskrieges eine strategische Dimension verliehen hat. Die Berücksichtigung der damit verbundenen Risiken und Herausforderungen wurde dabei bedingt durch die Funktionsweise und Organisation der Geheimdienste der westlichen Welt sehr unterschiedlich gehandhabt. Die angelsächsischen Nachrichtendienste wurden sehr früh mit der strategischen Dimension einer wirtschaftlichen Herausforderung durch den Kampf um Öl konfrontiert. Großbritannien war zweifellos die erste westliche Staatsmacht, die ihr nachrichtendienstliches Potenzial so deutlich für den Wunsch, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Vorherrschaft über die Lagerstätten des Nahen Ostens und des Iran zu erlangen, einsetzte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges beteiligten die Vereinigten Staaten ihre Geheimdienste an der Suche nach geopolitischer und geoökonomischer Vormachtstellung in der Energieversorgung sowie in den mit dem Wettrüsten verbundenen Industriesektoren. In beiden Fällen waren die britische und die amerikanische Haltung offensiv und defensiv zugleich. In Frankreich wurde das Konzept des Wirtschaftskrieges mit Ausnahme militärischer Konflikte nie strategisch mit der Ausrichtung der Geheimdienste verbunden. Während des Ersten Weltkrieges schuf das französische Kriegsministerium 1915 eine Abteilung, die mit der wirtschaftlichen Aufklärung des Gegners betraut wurde. Eine ihrer Aufgaben bestand darin, die Sammlung von Informationen zu organisieren um die deutschen Versorgungswege zu identifizieren und zu unterbrechen. Am Ende des Konflikts im Juni 1918 schlug diese Abteilung die Schaffung einer interministeriellen Struktur für den Austausch von Wirtschaftsinformationen über die Kriegszeit hinaus vor, was jedoch nie umgesetzt wurde. Die Gefahr eines neuen großen Konflikts führte in Frankreich aber nicht dazu, dass diese Überlegungen erneut aufgegriffen wurden.
Es waren wieder die Briten, die mit gutem Beispiel vorangingen, indem sie ein Ministerium für Wirtschaftskrieg schufen, zu dem Winston Churchill einen Geheimdienst- und Aktionsdienst, den Special Operations Executive, hinzufügte. Die Missionen des SOE waren auf den Aufbau von Widerstandsnetzwerken in den von Deutschland besetzten Ländern fokussiert mit dem Ziel, Erkenntnisse über die von Deutschland eingesetzten Ressourcen zu erlangen und Sabotagen vorzubereiten um die Logistik des Feindes zu destabilisieren oder den Einsatz neuer Waffentypen zu vereiteln. Im Vergleich zum Ersten Weltkrieg war dies ein weiterer Schritt bei der Integration wirtschaftlicher Kriegsführung zur Unterstützung militärischer Operationen.
Späte und begrenzte Erkenntnis
Die Souveränität ist die vom Staat anerkannte höchste Macht. Die Frage der Souveränität geht aber Hand in Hand mit der Frage der Unabhängigkeit. Die Frage der Macht impliziert aber auch eine Vision ihrer Wachstums- und Erhaltungsdynamik auf Kosten anderer Länder. Macht ist verbunden mit dem Streben nach Vorherrschaft und der Schaffung von Abhängigkeiten. So wurde die Bedeutung von Erdöl als Abhängigkeitsfaktor in Frankreich nur sehr spät erkannt und beantwortet. Mit der Entscheidung von General de Gaulle, die staatliche Ölgesellschaft Elf Aquitaine zu gründen, wurde das Ziel verfolgt, die Abhängigkeit Frankreichs von angelsächsischen Unternehmen zu reduzieren und um eine sichere Versorgung an Öl für die französische Wirtschaft zu garantieren. Dabei wurde auch staatliche Wirtschaftsaufklärung eingesetzt. Eine Regierung kann also versuchen, die Unabhängigkeit der Nation zu bewahren, ohne dabei Teil einer Dynamik des Machtstrebens zu werden. Die Strategien zur Steigerung von Macht und Einfluss durch die Wirtschaftskraft, die von so unterschiedlichen Nationen wie den Vereinigten Staaten oder Japan entwickelt und umgesetzt wurden, zeigen jedoch die Notwendigkeit einer integrierten Analyse klar auf. Es war und ist legitim, über den dialektischen Zusammenhang zwischen dem Wunsch nach Vorherrschaft (USA) oder der Ablehnung der Unterwerfung (Japan) und einer auf dem Konzept des Wirtschaftskrieges basierenden Denkweise nachzudenken. Egal ob ein siegreiches Amerika, das die Vorherrschaft der westlichen Welt übernommen hat, oder ein im Krieg besiegtes Japan: Machterweiterung war das Ergebnis einer fast ständigen Artikulation zwischen dem Bedürfnis zu erobern und dem informiert zu sein. Nach 1945 gab es in Frankreich und in Deutschland kaum Überlegungen, wie man mit dieser Art von Frage umgehen sollte. Die Wahrnehmung der Bedrohungen konzentrierte sich auf die UdSSR.
Aber der Fall der Berliner Mauer ließ uns die Lehren aus einer solchen Beobachtung vergessen. Die Staatsapparate fielen schnell wieder in ihren alten Trott zurück. In einer friedlichen Welt, die von der Globalisierung dominiert wird, wurde wirtschaftliche Aufklärung schnell als sekundäre, sogar anekdotische Funktion betrachtet. Das Ende des Kalten Krieges wäre angesichts der Veränderung des Kontextes im Kräfteverhältnis zwischen den Mächten und insbesondere der Formalisierung einer Doktrin der Wirtschaftssicherheit unter der Präsidentschaft von Bill Clinton ein geeigneter Zeitpunkt für eine konstruktive interne Debatte zu diesem Thema gewesen. Dies war leider nicht der Fall. Es dauerte mehr als ein Vierteljahrhundert, um die Bedeutung der wirtschaftlichen Aufklärung bei den chinesisch-amerikanischen Handelskonfrontationen aufzuzeigen.
Für eine neue Art der Wirtschaftsaufklärung
In einer zunehmend chaotischen Welt sind die Wirtschaftskriege des 21. Jahrhunderts jetzt systemisch. Die aktuelle Krise von covid-19 hat das „vergessene“ Problem der wirtschaftlichen Abhängigkeit in wichtigen Bereichen wie der Pharmaindustrie erneut ans Tageslicht gebracht. Europa musste feststellen, wie sehr es inzwischen von China abhängig ist und diese Abhängigkeit die Widerstandsfähigkeit von Staaten, Gesellschaften und Unternehmen beeinträchtigen kann. Die vielfältigen Probleme, von denen viele Länder nach der Pandemie betroffen sind, werden die internen und externen Spannungen verschärfen. Mit anderen Worten, betroffene Staaten und verantwortungsvolle Regierungen müssen ihre Nachrichtendienste an einen radikal anderen Kontext anpassen. Die Hauptpriorität ist möglicherweise nicht mehr der Kampf gegen den islamischen Terrorismus. Der Nutzen wirtschaftlicher Intelligenz muss angesichts der dringenden Überlebensbedürfnisse und der wirtschaftlichen Entwicklung in einem schwierigen Kontext, in dem niemand ein Geschenk machen wird, neu bewertet werden. Die Verteidigung der Interessen eines Landes sollte diese neue systemische Dimension der Wirtschaftskriegsführung berücksichtigen. Die nachrichtendienstliche Wirtschaftsaufklärung muss an dieses neue Konfliktfeld angepasst werden, das unter die „unsichtbaren Schachbretter“ fällt. Es kann nicht auf den traditionellen Rahmen sogenannter Wirtschaftssicherheitskonzepte und -strategien beschränkt werden, welche hauptsächlich auf den Schutz materieller und immaterieller Werte abzielt oder auf bestimmten externen Interessen wie dem Zugang zu strategischen Ressourcen beruht.
Der Eintritt in die Ära der systemischen Wirtschaftskriegsführung impliziert die Formalisierung einer Doktrin zum Thema Abhängigkeit, die Neubewertung geoökonomischer Fragen sowie die Verbesserung der nationalen Wirtschaftssicherheitspolitik. Der Dialog zwischen den betroffenen Behörden und den Fachleuten der Privatwirtschaft muss und soll sowohl in Frankreich als auch in Deutschland aufgebaut und intensiviert werden.