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Das politische Stimmungsbild als Risiko für unsere Gesellschaft

13.09.2023
Es ist unangemessen und fatal, einer großen Gruppe von Wählern politische Blindheit und Ahnungslosigkeit vorzuwerfen Foto: www.istock.com / 
Tero Vesalainen
Es ist unangemessen und fatal, einer großen Gruppe von Wählern politische Blindheit und Ahnungslosigkeit vorzuwerfen Foto: www.istock.com / Tero Vesalainen

Herr Washausen, vor einigen Wochen haben die Ergebnisse der Landratswahl im Kreis Sonneberg für viel mediales Aufsehen gesorgt. In der Stichwahl siegte der AfD-Kandidat mit mehr als 5 Prozent Vorsprung vor dem Kandidaten der CDU. Ist das für Sie als Sicherheitsberater ein Thema?

Auf jeden Fall. Aber anders als in vielen Medien, einschließlich der öffentlich-rechtlichen Fernsehstationen, ist das Wahlergebnis von Sonneberg für mich nicht die fürchterliche Folge der zunehmenden Rechtslastigkeit der Bevölkerung im Osten der Republik. Es ist unangemessen und fatal, einer großen Gruppe von Wählern politische Blindheit und Ahnungslosigkeit vorzuwerfen. Sonneberg sollte vielmehr Anlass sein, darüber nachzudenken, warum diese Entwicklung so passiert. Das ist ja sicher nicht das Ende.

… heißt, Sie verstehen die AfD-Wähler?

Zunächst einmal ist dazu anzumerken, dass es uns insgesamt, und besonders den sogenannten Parteien der bürgerlichen Mitte, in den vergangenen Jahren nicht geholfen hat, die AfD und ihre Wähler zu stigmatisieren und im politischen Alltag weitgehend auszugrenzen, anstatt nach „des Pudels Kern“ zu suchen.

Sehen Sie, es ist lohnenswert, sich anzuschauen, wo in unserer Gesellschaft die Meinungsbilder in den Farben der AfD entstehen: „Die Milieus der Mitte definieren in hohem Maß, was in einer Gesellschaft als normal gilt.“ Darauf wies jüngst Frau Silke Borgstedt[1] vom Redaktions-Netzwerk Deutschland hin. In dieser so genannten bürgerlichen Mitte sehen wir Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlicher politischer Beweglichkeit. Der eher nostalgische Teil neigt nicht zur Radikalisierung, ist aber auch nicht politisch engagiert. Die „moderne Mitte“ beschrieben Meinungsforscher hingegen unlängst als „adaptiv-pragmatisches Milieu“. Und das ist die Gruppe, in der wir die Meinungsbilder finden, die Kipppunkte der politischen Stimmung in Deutschland sein können.

2021 kamen 43 Prozent der AfD-Wähler aus der bürgerlichen Mitte, 2022 waren es schon 50 Prozent und aktuell sagen die Umfrageergebnisse einen Anteil von 56 Prozent voraus. Wenn wir also zu der Einschätzung kommen, dass die Programmatik und das Tun der AfD-Politiker mit unserer verfassungsmäßigen Ordnung nicht wirklich vereinbar sind, heißt das doch, dass die politische Ordnung der Bundesrepublik aus der bürgerlichen Mitte heraus erodiert. Eine bittere Schlussfolgerung für alle Demokraten.

Natürlich sind Ökoterroristen, Linksextreme und Rechtsradikale echte Problemgruppen. Wie wir dem PMK-Lagebild entnehmen können, ist die Bandbreite der Straftaten und Sicherheitsgefährdungen groß. Die Zunahme organisierter, rechtsextremistischer Straftaten von Einzeltätern und Gruppen ist besonders beunruhigend.

Aber gefährden diese Leute den Bestand der verfassungsmäßigen Ordnung in Deutschland? Ich sage, nein.

Wo sehen Sie also das Problem, „des Pudels Kern“?

Natürlich müssen unsere Sicherheitsbehörden die Reichsbürger sehr aufmerksam beobachten und eingreifen, wenn staatsgefährdende Aktionen geplant oder sogar durchgeführt werden.

Wenn wir aber ernsthaft verhindern wollen, dass politischer Populismus weiter um sich greift und sich die Stimmung im Land aus der bürgerlichen Mitte heraus weiter radikalisiert, müssen sich alle demokratischen Parteien und Organisationen dringend damit auseinandersetzen, warum inzwischen mehr als die Hälfte (J.W.: 53 Prozent) der Wähler als Ursache für veränderte Wahlentscheidungen Politikversagen benennt. Signifikante Teile der Bevölkerung sind der Meinung, dass die etablierten politischen Parteien alles zerreden, keine Probleme lösen und weit weg sind von den Alltagssorgen der Bürger.

Natürlich ist es richtig, dass dringend Lösungen für die Klima- und Ressourcenfragen her müssen. Aber es läuft doch etwas schief, wenn sehr viele Menschen das unsägliche Gefühl haben, dass es nicht mehr in Ordnung ist, eine neue Gasheizung einzubauen, seinen Urlaub auf einem Kreuzfahrtschiff zu verbringen oder Fleisch zu essen.

Gleichzeitig wird mit Gesetzen und Verordnungen regiert, die eine enorme Preissteigerungswelle verursachen, massenhaft Vermögen durch die Inflation vernichten und den nach uns kommenden Generation einen riesigen Schuldenberg aufbürden.

Aber es wird doch aus allen Richtungen gefordert, dass die Politik schneller handeln und umsetzen muss. Sehen Sie da keinen Widerspruch?

Das ist in der Tat nur ein scheinbarer Widerspruch, der auch gerne zur allgemeinen Disziplinierung genutzt wird.

Mir geht es darum, deutlich zu machen, was gerade passiert. Natürlich treffen Preiserhöhungen die sozial schwächeren Schichten der Bevölkerung zuerst und besonders hart. Der sozialökonomisch bedeutsamere Lochfraß findet jedoch bei den Familien mit mittlerem Einkommen statt. Extreme Verteuerung von Baukrediten, Inflation und Verteuerung der Lebenshaltungskosten lassen die mühsam erarbeiteten, kleinen Vermögen dahin schmelzen. Millionen Familien, die bisher in der Komfortzone der sozialen Marktwirtschaft verortet waren, befürchten oder merken, dass sie aus dem Mittelfeld herausfallen. Diese Mittelschicht war mehr als sechzig Jahre der Stabilitätsanker der (west-)deutschen Gesellschaft. Diesem Konsens droht jetzt, wenn nicht gegengesteuert wird, die Kündigung.

So entstehen die sozialen Ursachen für Kipppunkte hin zum Populismus. Das beunruhigt mich durchaus, denn meinungsbildend ist die Mitte unserer Gesellschaft. Wer immer mit einem Minimum an Geschichtswissen ausgestattet ist, darf sich dazu die Entwicklungen der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts im untergegangenen Deutschen Reich vor Augen halten.

Aber hat nicht der Einzelne auch eine Verpflichtung, an den strategischen Fragen unserer Zeit mitzuwirken?

Eine solche staatsbürgerliche Pflicht gibt es so und de jure zunächst nicht wirklich. Wir sind ja keine kollektivistische Gesellschaft. Die freie Entfaltung und das Wohlergehen des einzelnen Menschen in Frieden und Freiheit sind die wichtigsten Ziele dieser Gesellschaft.

Das bedeutet aber explizit, dass der Staat für den Bürger da ist, dass er die Interessen seiner Bürger im Blick haben muss. Immer mehr Bürger haben aber den Eindruck, dass Politik gemacht wird, ohne die ökonomischen Folgen für die Bürger und die deutsche Wirtschaft abzuwägen. Nicht wenige der Probleme, mit denen unsere Wirtschaft heute kämpft und über die sich Bürger ärgern, sind hausgemacht. Natürlich verstehen die Leute, dass wir die Klima- und Energiewende brauchen. Das Verständnis endet aber da, wo man erlöserhaften Eifer und ideologische Verbissenheit wahrnimmt.

Ich gebe zu, dass ich ein Stück weit Verständnis habe für die Zeitgenossen, die da sagen, dass sei doch allemal besser, als das Aussitzen strategischer Fragen unter der ersten deutschen Kanzlerin. Mag sein. Dem ist entgegen zu halten, dass die gesamtgesellschaftliche Verabredung der Sozialen Marktwirtschaft bisher hieß, das die Prosperität der deutschen Wirtschaft auf der Basis freien Unternehmertums auch der allgemeinen Wohlfahrt dienen muss. Und Vater Staat stellt die notwendigen Rahmenbedingungen sicher. Man kann durchaus den Eindruck gewinnen, dass uns die Art und Tiefe der regulatorischen Eingriffe durch Staat und Behörden in eine andere Richtung abdriften lässt.

Der bisher erreichte allgemeine Wohlstand in der Bundesrepublik wird das möglicherweise einige Zeit aushalten. Nach wie vor sind wir eines der wohlhabenden Länder. Wir sollten uns aber nichts vormachen. Unsere Wirtschaftskraft beginnt merklich nachzulassen. Im Ergebnis könnten die Haushalte bei Kommunen, Ländern und im Bund dauerhaft zu Schuldenbergen verkommen und die Ertragskraft der Unternehmen wird für die Gewährung eines Inflationsausgleichs bei Löhnen und Gehältern längst nicht überall ausreichen.

… aber der deutsche Staat tut doch sehr viel für die Zukunftssicherung.

Ja, in der Tat gibt es vielfältige Bemühungen, wichtige Themen voran zu bringen. Dennoch muss man sehen, dass wir bei ganz wichtigen Fragen nicht voran kommen. Staat und Behörden haben Fähigkeiten verloren oder abgebaut. Die Corona-Pandemie hat uns vor Augen geführt, wo die Leistungsgrenzen unserer Behörden sind. Die Planungen und Genehmigungen von wichtigen Infrastrukturmaßnahmen gehen viel zu langsam voran. Der Zustand unserer Verkehrsinfrastruktur ist teilweise peinlich und eine Belastung für Wirtschaft und Bürger. Und leider sind auch keine wirklichen Konzepte für die dringend notwendige Pflegereform, ein vereinfachtes, gerechteres Steuerrecht und die Verbesserung der Einkommensstrukturen bei den sozialen Dienstleistungen und im Bildungswesen zu sehen. Unser Gemeinwesen wird immer teurer und seine Fähigkeiten immer schlechter. Diese Diskrepanz ist nicht akzeptabel. Ich habe Verständnis dafür, dass das für Unmut sorgt.

Können Sie noch einmal erläutern, warum die Wirkung vor allem in der so genannten bürgerlichen Mitte so kritisch ist?

Zunächst einmal muss man verstehen, dass wir heute, im Vergleich zur Regierungszeit von Helmut Schmidt und Willy Brandt, in einer ganz anderen Zeit unterwegs sind. Meinungsbildende Medien, und damit auch die wichtigsten Transporteure für politische Nachrichten aus Regierungen und Parteien, waren die Abendnachrichten von ARD und ZDF, der öffentlich-rechtliche Rundfunk sowie die Tageszeitung.

Heute sind wir 24 Stunden am Tag Adressaten und willfährige Empfänger nicht endender Mengen an Daten, wichtiger, unrichtiger, verfälschter, unnützer oder auch nützlicher „Informationen“. Unsere Smartphones und Tablets sind die großen Fässer ohne Boden. Orientieren kann sich in dieser endlosen Wüste aus Informationen, Fake News, Meinungen und Lügen nur, wer über eine ausreichende digitale Informationskompetenz verfügt.

Nach wie vor verharren wir in dem Zustand, dass unsere Kinder in der Nutzung digitaler Medien viel, viel weiter sind als die Lehrer und die Lehrpläne. Da ethisch-moralische Erziehung und politische Bildung seit Jahrzehnten nur noch rudimentär stattfinden, sind die Langzeitwirkungen vorprogrammiert. Ein zunehmender Teil der Bevölkerung ist informell orientierungslos und politisch nicht interessiert. Man richtet sich bei „Shopping Queen“ und im „Perfekten Dinner“ gemütlich ein und regt sich gelegentlich auf. Das ist der Mainstream und nicht die Ausnahme.

Viele Bürger aus der Mitte der Gesellschaft verfügen über eine solide Schul- und Berufsausbildung oder haben studiert. In dieser Community ist die informelle Kompetenz deutlich höher. Deshalb können sie Defizite in unserer Gesellschaft, Manipulationsversuche und die Unterschiede zwischen Information und Meinung besser erkennen.

Die Konsequenzen in den persönlichen Einstellungen können dann unterschiedlicher Art sein. Die einen bleiben bei den politischen Sympathien, die schon Oma und Opa hatten („passt schon“) und andere folgen den Rattenfängern, weil sich ja sonst sowieso nichts ändert. Ich plädiere da eher zu eigenem politischem Engagement, zu staatsbürgerlicher Mitwirkung. Denn eine freie, demokratische Gesellschaft ist kein Segen oder ein Geschenk aus einer fünften Dimension. Menschen müssen sich dafür einsetzen. Dafür muss man aber zunächst den Wert dessen erkennen, was wir gerade riskieren – den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.

Die Potenziale dafür sind in der Mitte unserer Gesellschaft am größten, leider auch für eine bewusste Radikalisierung und falsche, folgenreiche Wahlentscheidungen.

 

[1] Frau Silke Borgstedt ist Geschäftsführerin des Markt- und Sozialforschungsinstituts Sinus

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Peter Niggl

Peter Niggl, Journalist und Chefredakteur der Fachzeitschrift Security Insight