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„Der Rechtsextremismus macht mir große Sorgen“

22.03.2022
Prof. Michael Knape, Direktor beim Berliner Polizeipräsidenten a.D.
Foto: Knape
Prof. Michael Knape, Direktor beim Berliner Polizeipräsidenten a.D. Foto: Knape

Mit Prof. Dipl.-Vww. Michael Knape, Direktor beim Berliner Polizeipräsidenten a.D., sprach Peter Niggl

Herr Knape, Ihr Name steht für konsequentes Vorgehen gegen politischen Extremismus, vor allem gegen den zunehmenden Rechtsextremismus. Als Mitautor des Kommentars zum aktuellen Berliner Versammlungsfreiheitsgesetz haben Sie dies jüngst erneut überzeugend und nachhaltig unter Beweis gestellt. Nach Ihrer aktiven Zeit bei der Polizei waren Sie auch Mitglied in den Untersuchungsausschüssen zum Anschlag am Berliner Breitscheidplatz und dem Versuch des Überfalls auf die Synagoge in Halle. Aus diesem Grund gilt Ihre Aufmerksamkeit auch der Mordserie, die mit der Chiffre „Nationalsozialistischer Untergrund“ – NSU – etikettiert wird. Mitte Dezember vergangenen Jahres meldete die „Tagesschau“: „Der Mammutprozess um die rechtsextreme NSU-Terrorserie ist rechtskräftig abgeschlossen.“ Was macht den Fall so ungewöhnlich?

Als erstes ist er für mich so ungewöhnlich, dass es in Deutschland nach dem Gräuel der Nazis wieder einen Nationalsozialistischen Untergrund gibt, der Mitbürger anderer Ethnien menschenverachtend und skrupellos meuchelt. Schlimmer aber finde ich es, dass die deutschen Sicherheitsbehörden, also Polizei und Nachrichtendienste, nicht ansatzweise auf den Gedanken gekommen sind, dass hier, wie bei der linksextremistischen RAF, Rechtsextremisten terroristische Straftaten in Form von Tötungsdelikten begehen.

Man sieht auch, dass die dreißigjährige Sperrfrist, die über die Akte verhängt worden ist, außergewöhnlich lang ist. Das wirft natürlich beim unbefangenen Beobachter die Frage auf, womit diese lange Frist begründet ist. Soll dort womöglich etwas verheimlicht werden und in Vergessenheit geraten? Ich kann nur mit den Worten des SPD-Politikers Heiko Maas, der damals noch Bundesjustizminister war, sagen: Ein großes Staatsversagen ist hier evident. Das betrifft Polizei und Nachrichtendienste gleichermaßen.

Woran machen Sie dieses Versagen im Besonderen fest?

Die Verbrechensserie richtete sich – ausgenommen den Mord an der Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter – ausschließlich gegen Bürger mit Migrationshintergrund. Als Polizist weiß ich, dass bei Morden, insbesondere wenn eine Serie sich erkennen lässt, in alle Richtungen ermittelt wird und werden muss. Die Ermittlungen umfassen vor allem das persönliche Umfeld der Geschädigten, das spezifische Milieu der Kriminalität, so z.B. auch die Organisierte Kriminalität und dergleichen. Aber auch die Opfer werden durchleuchtet, das ist unausweichlich und eine Notwendigkeit. Deshalb hätten professionell arbeitende Beamte der Landeskriminalämter auf die Idee kommen müssen, dass hier möglicherweise ein anderer Hintergrund bei den Tatmotiven zu suchen ist. Wäre es nicht naheliegend gewesen, auch hier einen terroristischen Hintergrund – wie seinerzeit bei der Roten Armeefraktion von links – diesmal von rechts, vor allem weil fremdenfeindlich, ins Kalkül zu ziehen und die Ermittlungen in diese Richtung auszuweiten?

In Potsdam gibt es ein Lagezentrum der Bundespolizei. Dort werden Lagebilder, ja sogar spezielle Teillagebilder, beispielsweise für Terrorismus, Extremismus, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus und dergleichen, erstellt, die somit einer ständigen und aktuellen Fortschreibung unterliegen. Wir verfügen über hochkarätige Beratungskreise der Sicherheitsbehörden, zum Beispiel das Gemeinsame Terrorabwehrzentrum), also der Polizeien des Bundes und der Länder, die sich insbesondere mit Vertretern der Verfassungsschutzbehörden der sechzehn Bundesländer sowie des Bundesamts für Verfassungsschutz, des Bundesnachrichtendienstes und des Militärischen Abschirmdienstes über aktuelle Gefahrenlagen austauschen. Es ist daher für einen unbefangenen Dritten und erst recht für einen Insider, der einmal bei der Polizei einen hohen Dienstgrad bekleidet hat, unverständlich, warum insoweit nicht auch in Richtung rechter Terrorismus ermittelt worden ist.

Bei der Mordserie des NSU fällt mir eines auf: Es gab zu keinem Zeitpunkt ein Bekennerschreiben. Lässt sich das mit der Logik der Täter erklären?

Während die RAF mit ihrem Mordanschlag auf den Generalbundesanwalt Siegfried Buback im April 1977 und mit der Tötung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer ein halbes Jahr später offen Zeichen in die Bevölkerung setzen wollte, dass der verhasste Staatsapparat nicht in der Lage ist, höchste Repräsentanten zu schützen, wollte der NSU im Untergrund arbeiten. Sie haben aus den Fehlern der RAF „gelernt“, wenn man das so sagen will. Diese Leute wussten, dass Verlautbarungen oder Veröffentlichungen für sie die Gefahr entdeckt zu werden um ein Vielfaches erhöhen würde. Ihr Ziel war es, die Bevölkerung zu verunsichern und die Täter hatten ihre Freude daran, ihre unmenschlichen Gewaltphantasien an ausländischen Mitbürgern auszuleben ohne ins Visier der Fahnder zu kommen.

Man darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen, dass das rechtsextreme Netzwerk „Blood and Honour“, welches in Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern seinen Tätigkeitsschwerpunkt hatte – und wahrscheinlich immer noch hat – Anfang dieses Millenniums vom Bundesinnenminister verboten wurde. Der NSU musste also sehr aufpassen, dass er nicht von den gleichen Maßnahmen der Gefahrenabwehr und Ermittlungsmaßnahmen wie gegen „Blood and Honour“ erfasst wird und so ins Blickfeld der Ermittler gerät.

Es bleiben aber Fragen, die über den Verantwortungsbereich des NSU hinausgehen. Der Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes Andreas Temme war bei den Todesschüssen an Halit Yozgat – dem letzten Opfer der Mordserie – in dessen Internetcafé, will aber nichts mitbekommen haben. Sind dessen Aussagen glaubhaft?

Natürlich sind diese Aussagen nicht glaubhaft. Ich verweise auf die dreißigjährige Sperre der NSU-Akten. Der thüringische Verfassungsschutz und vor allem dessen Präsident Helmut Roewer haben eine unrühmliche Rolle gespielt, das ging ja durch die Presse. Es ist hinlänglich bekannt, dass die rechte Szene mit V-Leuten durchsetzt war. Nicht zuletzt scheiterte daran ja auch das Verbotsverfahren gegen die NPD. Wenn Temme sagt, er habe nichts mitbekommen, dann muss man wissen, dass für die Tätigkeit als V-Person nur geeignete Leute, sog. Insider, angeworben werden. Man muss darüber hinaus den Verfassungsschutzbehörden schon konzedieren, dass sie gut bis sehr gut ausgebildetes Personal haben. Wenn dann ein Mitarbeiter eines Landesamtes für Verfassungsschutz in einem Internetcafé sitzt und von dem Mord nichts mitbekommen haben will, ist das für einen außenstehenden Beobachter völlig unverständlich und nicht nachvollziehbar.

Die Bundesministerin des Innern, Nancy Faeser, war zum Zeitpunkt der Aktensperre durch die hessische Regierung Fraktionsvorsitzende der SPD im Landtag in Wiesbaden. Auf ihrer Website schreibt sie unter anderem: „Der Fall Temme, in dem es zu klären gilt, ob ein Verfassungsschützer in den Mord an Halit Yozgat beteiligt war, beschäftigt uns weiterhin.“ Was denken Sie Herr Knape, können wir neue Erkenntnisse, vielleicht sogar Einblick in die NSU-Akten erwarten?

Die Sperrfrist der Akten ist – hier spreche ich als Professor der Polizei – auch unter ermittlungstechnischen Gesichtspunkten ein fataler Fehler. Es geht um das berechtigte Interesse von Universitäten, die Hintergründe erforschen zu können. Vor allem aber stehen die Hochschulen der Polizeien in Bund und Länder vor der Aufgabe, in der Ausbildung/Studium von Polizeibeamten des gehobenen und des höheren Dienstes Tatzusammenhänge nachvollziehbar zu erkennen, um daraus Lehrinhalte zu generieren, aus denen dann die notwendigen Schlussfolgerungen für Wissenschaft, Lehre und Forschung gezogen und eine Wiederholung von Fehlern in der Zukunft ausgeschlossen werden können. Aber auch die Öffentlichkeit hat ein berechtigtes Interesse, über die genauen Umstände der Verbrechensserie informiert zu werden. Es gab ja danach noch weitere Morde mit diesem politischen Hintergrund, denken wir nur an den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Mehr als andere beunruhigt mich, dass in der Bundeswehr im Bereich der Eliteeinheit „Kommando Spezialkräfte“ eine ganze Kompagnie wegen rechtsextremer Umtriebe aufgelöst werden musste. Und Teile von Spezialeinsatzkommandos des Bundes und der Länder – also die Besten der Besten der Polizei – zum Teil schon pensionierte Polizeivollzugsbeamte, trafen sich regelmäßig im Mecklenburg-Vorpommern auf dem Schießplatz in Güstrow zum Schießtraining. Dort horteten sie Waffen und Munition, um für einen Umsturz vorbereitet zu sein. Das alles zeigt für mich, dass die Bevölkerung ein berechtigtes Interesse hat, über den Inhalt der NSU-Akten aufgeklärt zu werden.

Kann es sein, dass sich im Fall des NSU die Sicherheitsbehörden einfach zu wenig gegenseitig informiert und koordiniert haben?

Das ist leider schlichtweg denkbar. Die Landesämter für Verfassungsschutz stehen zwar formal im regelmäßigen Informationsaustausch. Zusammen mit dem Bundeskriminalamt und den Polizeibehörden der Länder werden Lagebilder – und zwar sehr differenzierte – erstellt, die bei einer Serie von Verbrechen immer weiterentwickelt und präzisiert werden. Jedoch haben eine offensichtlich teils oberflächliche, teils ungenaue Information und Koordination zu einer völlig falschen Lagebeurteilung deutscher Behörden geführt, verbunden mit in der Sache fehlenden angemessenen polizeilichen Ermittlungsmaßnahmen. Nicht umsonst ist seitens des Herrn Heiko Maas von einem Totalversagen deutscher Behörden im NSU-Komplex die Rede. Wer etwas anderes behauptet, will den Leuten Sand in die Augen streuen.

Im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der NSU-Verbrechen gibt es eine auffällige Häufung von Todesfällen, bei denen es sich um Suizide handeln soll. Ist das plausibel?

Für eine solche Mordserie ist eigentlich ausgeschlossen, dass Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe die alleinigen Täter waren. Hier muss ein Netzwerk bestanden haben. Es stellt sich schon allein die Frage, wie sind die Opfer ausgewählt, wie ist die Tatbegehung vorbereitet worden und vieles mehr? Es drängt sich die Annahme also geradezu auf, dass die Täter über ein Geflecht von Helfern und Mittätern verfügten. Auch hier ist zu sagen: In den gesperrten Akten muss etwas stehen, was nicht an die Öffentlichkeit dringen soll. Man konnte dem CDU-Parlamentarier Clemens Binninger, der selbst Polizeibeamter ist und den zweiten NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages leitete, nur voll und ganz zustimmen, als dieser völlig zu Recht sagte: Ich habe große Zweifel, dass der NSU nur aus drei Personen bestand.

Trotzdem wurden offensichtlich keine weitergehenden Untersuchungen veranlasst.

Ja, das stimmt leider. Ein Abgeordneter oder der Vorsitzende eines Untersuchungsausschusses ist gegenüber den Sicherheitsbehörden nicht weisungsbefugt. Diese Befugnis liegt ausschließlich in den Händen der zuständigen Minister und Staatssekretäre für Inneres. Ich habe in öffentlicher Anhörung als Mitglied im Untersuchungsausschuss zum Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz des Jahres 2016 selbst zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Zusammenarbeit der Landeskriminalämter von Berlin, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg suboptimal funktionierte. Professionelle Zusammenarbeit – qualifizierte Lagebeurteilung – sieht garantiert anders aus.

Dadurch drängt sich die abschließende Frage geradezu auf: Welche Schlussfolgerungen müssen aus den Erfahrungen im Falle NSU gezogen werden?

Die Ermittlungsbehörden müssen jedwede Form von Extremismus ernst nehmen. Man kann nach den jüngsten Veröffentlichungen feststellen, dass man zwar auf dem rechten Auge sehender geworden ist. Aber es müssen sich auch auf die jüngsten Vorfälle, die ich bereits genannt habe, profunde kriminalpolizeiliche Ermittlungen anschließen. Ich komme noch einmal auf die gesperrten Akten. Diese können für derartige Ermittlungen wertvolle Hinweise enthalten, die man heute aus vielerlei Gründen unbedingt kennen muss, nicht erst in 30 Jahren. Heute wird unisono betont, dass vom Rechtsextremismus die größte Bedrohung für unsere Demokratie ausgeht. Diese Gefahr abzuwehren helfen keine Verschlussakten.

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Peter Niggl

Peter Niggl, Journalist und Chefredakteur der Fachzeitschrift Security Insight