Die Hauptstadt – ein „Failed State“?
Mit Marcel Luthe, Mitglied im Abgeordnetenhaus von Berlin, sprach Peter Niggl
SECURITY insight: Herr Luthe, Sie leiten Ihr Buch mit der Frage ein „Ist Berlin ein ‚Failed State‘?“. Eine solche These hat auch der Ex-Chef der Linde AG, Wolfgang Reitzle, aufgestellt. Abgesehen davon, dass die Hauptstadt kein Staat ist, ist die Frage doch sicher berechtigt, ob hier Verhältnisse wie im Jemen oder Südsudan herrschen?
Marcel Luthe: Ich stelle fest, für welche Gruppen Berlin ganz hervorragend funktioniert, und dann gibt es auch solche, für es überhaupt nicht funktioniert. Für die, die es überhaupt nicht funktioniert, das sind meines Erachtens die Leistungsträger, die den volkswirtschaftlichen Mehrwert erwirtschaften.
Welche Bereiche haben Sie dabei im Auge?
Zu allererst die Haushalts- und Finanzpolitik. Wenn man sieht, dass wir auf allen Gebieten der Berliner Verwaltung unwirtschaftlich arbeiten und dabei Millionen und Milliarden verschleudern, dann bedeutet das natürlich, dass nicht sorgfältig mit den Mitteln umgegangen wird, die der Bürger dem Staat – also wiederum sich selbst – zur Verfügung stellt und die die Exekutive verwalten soll. Das führt dazu, dass Unmengen von Geldern unnötig eingenommen und dann wieder verschleudert werden.
Ich will mal den Flughafen BER als Exempel nehmen. Vielleicht kann man an diesem Projekt am besten aufzeigen, was Sie im Blick haben.
In jedem sozialistischen Staat gibt es ja immer eine ganz tolle Umverteilung. Man hat auch immer der Exekutive genehme Unternehmer, die natürlich von der Arbeit des Senats profitieren. So ist es auch beim BER, bei dem der eine oder andere einen ganz tollen Auftrag bekommen hat, für den er praktischerweise noch nicht einmal großartig arbeiten musste.
„Beim BER haben wir eine völlig unnötige Umverteilung von 5,2 Milliarden Euro.“
Aber alle anderen müssen zahlen, der Staat erwirtschaftet bekanntlich kein Geld. Insofern haben sie hier eine völlig unnötige Umverteilung von 5,2 Milliarden Euro, also von der Differenz zwischen dem, was der Airport kosten sollte und was er letztlich gekostet hat. Und es ist mitnichten so – dafür kenne ich auch genug Ermittlungsverfahren in diesem Kontext –, dass das Geld immer für echte Leistungen geflossen wäre.
Es heißt ja immer wieder, dass besonders der Mittelstand der Leidtragende solcher Fehlentwicklungen sei. Sehen Sie das auch so?
Jetzt könnte man streiten, was genau der Mittelstand ist. Ganz allgemein kann ich sagen: Jeder, der 50 Prozent des von ihm Erwirtschafteten an den Staat abgibt, der damit Schindluder betreibt, jeder von denen leidet massiv unter dieser Politik. Wer nicht darunter leidet, das sind die Konzerne, denen kann es relativ egal sein, weil sie ohnehin international aufgestellt sind. Und wer auch nicht darunter leidet, das ist der Transferleistungs-Empfänger, beziehungsweise er bekommt es nicht mit. Denn der weiß ja gar nicht, dass es ihm besser gehen könnte, wenn wir eine funktionierende wirtschaftliche Situation hätten. Die wir wiederum erreichen würden, wenn den Leuten nicht unnötig das Geld aus der Tasche gezogen würde.
Welcher Bereich ist ihrer Ansicht nach mehr und welcher weniger von dieser Entwicklung betroffen?
Ich nehme mal die Ärzte als Beispiel. Die sind zum übergroßen Teil nicht auf dem freien Markt tätig. Die Abrechnung für deren Leistung ist weitgehend über die Kassen usw. bestimmt. Sie leiden unter der Politik vergleichsweise wenig bis gar nicht. Nehmen wir auf der anderen Seite die Restaurantbetreiber, deren Tätigkeit – nicht nur in der augenblicklichen Situation – penibel reglementiert ist.
Was schlagen Sie als Politiker vor, den Unternehmen die uneingeschränkte Entscheidungsfreit zu überlassen?
Unbedingt, in allen Bereichen. Ein Beispiel: weil gegenwärtig die Debatte über Sinn oder Unsinn der Corona-Maßnahmen in vollem Gange ist. In Berlin wurden die Autohäuser geschlossen, die Fahrradgeschäfte blieben offen. Unter dem Aspekt des Infektionsschutzes macht das überhaupt keinen Sinn. Da hat man die Branchen, die einem persönlich nahestehend bevorzugt und die anderen benachteilig. Ohne die ökonomischen Folgen zu bedenken.
Wollen Sie jegliches Regelwerk abschaffen oder Ihr eigenes dagegensetzen? Wenn ja, welches?
Ich bin ein Anhänger der „Österreichischen Schule“, die darauf ausgerichtet ist, so viel Freiheit wie irgend möglich zuzulassen. Als Beispiel nenne ich ja in meinem Buch den Berliner Wohnungsmarkt. Da ist der Staat einerseits größter Nachfrager, der bis zu 6000 Euro Miete für eine 44-qm-Wohnung übernimmt, andererseits haben wird den Staat als Anbieter, der auch Wohnungen für 18,50 bis 19 Euro pro Quadratmeter Kaltmiete offeriert. Wir haben also auf diesem Sektor gar keinen freien Markt, von dem der Senat gerne spricht, sondern der Staat pfuscht massiv hinein. Wenn man aber beginnt, hier zu regulieren, muss man das auch an anderen Stellen tun, die plötzlich durch die Eingriffe neu entstehen. Das funktioniert schon deswegen nicht, weil dies außerordentlich komplexe Themen und diese nicht planbar sind und sich nur von selbst regulieren können. Wenn man also Eingriffe vornimmt, provoziert man harte Gegenbewegungen. Deshalb kann es in gewissen Bereichen immer nur kurzfristige Eingriffe geben. Wenn es zum Beispiel um Monopolisten geht. Monopole sind schlecht für den Wettbewerb. Da muss eingegriffen und Monopole aufgelöst werden, weil sie ansonsten wirtschaftliche Entwicklungen abwürgen. Aber alles andere muss so frei wie möglich sein.
Ich will noch einmal auf den Ausgangspunkt zurückkommen. Failed State beinhaltet für mich, das kriminelle Strukturen eine Dominanz im gesellschaftlichen Leben gewinnen. Sehen Sie das für Berlin so?
Davon bin ich absolut überzeugt, denn das ist die einzige Erklärung, die letztendlich übrigbleibt, wenn man alle anderen rational überprüft und verwerfen muss. Wenn man alle die „kleinen“ Fehler betrachten, die zum Beispiel im Haushaltskontrollausschuss bekannt werden, und man dann nachfragt, wie dieser oder jener Vertrag zum Nachteil des Landes Berlin zustande gekommen ist, bekommt man bestenfalls bagatellisierende Antworten. Wenn man ein Übermaß an menschlicher Dummheit ausschließt, könnte hinter solchen Vorgängen vielmehr Absicht stecken.
„Acht Mal in zwei Jahren bei einem Unternehmen eingebrochen“
Ich möchte nur ein Beispiel bringen: Die Berliner Staatsanwaltschaft. Von den 22 Wirtschaftsreferenten, die es hier vor 15 Jahren gab, sind heute noch acht übrig, drei davon dauerkrank. Die sind gar nicht mehr in der Lage, Strukturen, vor allem finanzielle Strukturen der Organisierten Kriminalität zu verstehen. Wem nutzt denn letztendlich die politische Entscheidung, bei der Staatsanwaltschaft die Zahl der Wirtschaftsexperten derart herunterzufahren? Alle diese Einsparungen auf diesem Sektor der Strafverfolgung nützen doch nur den organisierten Täterstrukturen.
Daraus müsste ich schließen, dass die Justiz vor einem Kollaps steht…
…das geht noch viel weiter. Der Punkt des Kollapses ist doch längst erreicht. Wenn man sich die Diskrepanz zwischen Aufklärung von Straftaten und den Verurteilungen ansieht. Die Aufklärungsquote liegt unter 50 Prozent – übrigens auch schon in den Zeiten der CDU-Regierung, die auf diesem Gebiet viel versprochen hat – und die Verurteilungsquote je nach Deliktsbereich noch einmal deutlich unterhalb der 50 Prozentmarke liegt, das heißt, nur 25 Prozent der Verbrechen kommen zur Verurteilung. Das bedeutet, dass sich Verbrechen ganz offensichtlich tatsächlich lohnt. Das ist für mich der Kollaps von Justitia.
Trifft nicht die Mandatsträger ein gerütteltes Maß an Schuld für die Zustände in diesem Land, wenn sie sich nicht nur zu Corona-Zeiten die Taschen vollstopfen lassen? Salopp: Der Fisch stinkt vom Kopf.
Bemerkenswert, dass Sie eine Ebene darunter angesetzt haben. Strafbar macht sich doch nicht derjenige, der ein wirtschaftlich unattraktives Angebot macht. Strafbar macht sich derjenige, der eine Vermögensbetreuungspflicht hat. In diesem Fall zum Beispiel der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der ein für den Staat nachteiliges Angebot annimmt beziehungsweise annehmen lässt. Da ist der Kopf des Fisches. Und da passiert bemerkenswerterweise nichts.
Das untergräbt doch Loyalität der Bürger gegenüber den politischen Entscheidungsträgern.
Diese Sichtweise halte ich für bedenklich. Die Leute regen sich auf, wenn eine Spitzkandidatin einen Corona-Bonus in Höhe von 1500 Euro eingestrichen hat ohne es dem Bundestag zu melden. Was aber ist mit den geschätzten 12 Milliarden Euro, die in den letzten zehn Jahren allein im Berliner Drogenhandel umgesetzt wurden. Danach fragt niemand. Bei dieser Rechnung ist der Menschenhandel noch gar nicht eingerechnet.
Was ist der Grund dafür, dass dies nicht im Blickfeld liegt?
Wenn man sich die Definition von Organisierter Kriminalität ansieht, dann ist deren Sinn und Zweck die unauffällige Unterwanderung von Wirtschaft, Justiz, Verwaltung, Medien und so weiter. Und wenn man sich dann anschaut, welche tollen Debatten wir jetzt zum Beispiel über die sogenannten Clans führen. Wenn man irgendeine Zeitung aufschlägt und die Berichte liest und Bilder sieht, dann sehen die auch so aus, wie man sie aus dem Fernsehen kennt. Das sind Araber, die können sie ethnisch gut identifizieren und die sehen auch ein bisschen bedrohlich aus. Das ist doch ideal. Mit solchen Leuten schafft man es doch wunderbar, abzulenken von den eigentlichen Akteuren. Die sogenannten Clans sind für Schlagzeilen gut, wenn man mal Immobilien im Wert von zehn Millionen Euro beschlagnahmen kann. Wo sind die jährlichen 1,2 Milliarden Euro Umsatz aus den Drogengeschäften, warum spricht niemand darüber?
Wo liegen die Ursachen, die Drogenprofite heute nicht mehr zu thematisieren?
Die Akteure dieser Geschäfte sitzen heute nicht mehr in einem Hinterhofbüro. Die bewegen sich durch die Kanzleien, durch die Immobilienunternehmen und dergleichen. Und da hat man es leider auch mit dem einen oder anderen meiner Kollegen zu tun. Genau das ist der Modus Operandi der Mafia.
Da müsste doch auf höchster Ebene, sagen wir mal der Abgeordneten, gegengesteuert werden. Wieso geschieht das Ihrer Ansicht nach nicht?
Wenn auf den Posten des Polizeipräsidenten oder des Innenstaatssekretärs Leute sitzen, die mit ihrem Job überfordert sind oder ihn einfach nicht machen, ist der Informationsfluss zum Parlament nicht mehr gegeben. Dann wird auch derjenige, an den das Parlament zu berichten hat, nämlich der Souverän, der Bürger, nicht mehr erfahren, was wirklich los ist in der Stadt. Es reicht doch, ein Rädchen aus unserem parlamentarischen System herauszunehmen, um plötzlich alle anderen Räder leerlaufen zu lassen.
Ich komme jetzt noch einmal auf den Ausgangsbegriff „Failed State“ zurück. In Staaten, die unter diese Kategorie fallen, ist die Verwaltung zusammengebrochen, das öffentliche Leben läuft nur noch über Korruption, Beziehungen und Gewalt. Ist das Abgeordnetenhaus nur noch ein Haufen gekaufter Marionetten?
Nein, überhaupt nicht. Das muss ich auch zum Schutz meiner Kollegen ganz deutlich zurückweisen. Vielleicht in einigen, wenigen Fällen gibt es sicher auch da Leute mit charakterlichen Schwächen, die einen Umschlag mit Scheinen nicht zurückweisen würden. Aber so läuft das Ganze auch nicht. Das Parlament wird beschäftigt mit absolut schwachsinnigen und unnötigen Papierbergen. Als Abgeordneter müsste man eigentlich verhindern, dass sich eine Verwaltung verselbständigt. Dieser Zustand tritt aber ein, wenn das Parlament sich nicht mehr um sie kümmern kann. Und das wirkliche Problem ist, dass sich viele meiner Kollegen nicht mehr für die großen Zusammenhänge interessieren können, weil sie viel zu sehr abgelenkt werden, durch ein System des Klein-Klein, das sich über die Jahre etabliert hat.
Unter Berücksichtigung dieses Zustandes, fragt man sich zwangsläufig, vor welchem Problemen jemand steht, der in Berlin ein Unternehmer gründen oder sich mit einer Dependance niederlassen will?
Da ist sicher an erster Stelle das Hemmnis zu nennen, auf das man überall in Deutschland stößt und das heißt: Bürokratie. Dann kommt in Berlin die zweigliedrige Verwaltung hinzu, denn hier muss man sich mit der Hauptverwaltung des Senats und mit der des jeweiligen Bezirkes herumschlagen.
Die Bürokratie einfach aufzulösen ist doch wahrscheinlich auch keine Lösung…
… sicher nicht. Aber man könnte sie viel einfacher gestalten. Ein großer Hemmschuh liegt einfach darin, dass wir eine Vielzahl von Regelungen zeitlich unlimitiert beschließen, bei denen sich nie wieder jemand fragt, ob sie immer noch notwendig sind. Ich könnte mir vorstellen, jedes Gesetz nach ein bis zwei Legislaturperioden auf Wiedervorlage zu nehmen und gegebenenfalls dessen Fortdauer im Parlament zu beschließen. Damit würde die Sinnhaftigkeit eines Gesetzes verifiziert und dieses, wenn die Notwendigkeit nicht mehr gegeben ist, gestrichen werden.
Welche Rolle spielt Ihrer Ansicht nach, die persönliche Sicherheit für die Standortwahl?
Man hatte noch nie eine so hohe Wahrscheinlichkeit in Berlin Opfer eines Sexual- oder Gewaltdeliktes zu werden, wie im vergangenen Jahr. Wenn man sich die Banküberfälle respektive Überfälle auf Geldtransporte in den zurückliegenden Monaten ansieht, dann ist das natürlich ein erschreckender Indikator für die gewachsenen Gefahren. Das führt dazu, dass es sich ein Unternehmen, oder ein Einzelhändler zweimal überlegt, ob er noch viel Bargeld im Laden haben will. Sicherheit ist ein absoluter Standortfaktor. Es haben sich Unternehmer an mich gewandt, weil in ihrem Bürogebäude binnen zwei Jahren acht Mal eingebrochen wurde. Um solchen Entwicklungen Einhalt zu gebieten sind jedoch keine Ressourcen vorhanden. Letztendlich reagiert man von Seiten des Senats lediglich mit einem Schulterzucken.
Dann haben wir auch Anschläge aus dem Bereich des politischen Linksextremismus gegen die Stromversorgung, die darauf hinauslaufen sollen, Berlin zum „Failed State“ zu machen.
Und welche Indikatoren haben sie noch für die Bewertung als „Failed State“?
Da kann ich nur sagen, ich sehe Berlin nicht als „Failed State“, deshalb habe ich mein Buch auch „Sanierungsfall Berlin“ genannt. Man findet hier in der Stadt eben sehr viele Punkte die verbessert werden müssen. Ich nenne da ganz weit vorn den Bereich Schule und Bildung. Wenn man Kindern nicht beibringt, Sachen zu hinterfragen, dann erzieht man sich Untertanen, die für die künftigen gesellschaftlichen Aufgaben nicht gerüstet sind.
Fotocredit: Ollie Grabowski
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Peter Niggl
Peter Niggl, Journalist und Chefredakteur der Fachzeitschrift Security Insight