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Krisen brauchen dezentrale Lösungen

12.04.2024
Frank Roselieb, geschäftsführender Direktor des Krisennavigator - Institut für Krisenforschung, einem Spin-off der Universität Kiel.
Frank Roselieb, geschäftsführender Direktor des Krisennavigator - Institut für Krisenforschung, einem Spin-off der Universität Kiel.

Herr Roselieb, das Wort Krise ist gegenwärtig omnipräsent. Gibt es denn eine allgemeingültige Definition von Krise?

Ja, die gibt es. Sie ist 2002 durch eine entsprechende EU-Verordnung geschaffen worden und besagt, dass eine Krise ein internes oder externes Ereignis ist, durch das akute Gefahren drohen, entweder für Lebewesen – also Menschen und Tiere, oder für die Umwelt oder für Vermögenswerte oder für die Reputation einer Organisation. Das kann eine Behörde genauso sein wie ein Unternehmen. Hierbei reicht es aus, wenn einer dieser vier Faktoren erfüllt ist. Außerdem müssen akute Gefahren bestehen, die über das normale Lebensrisiko oder das normale Betriebsrisiko hinausgehen.

 

Diese Krise muss dann irgendwie flächenmäßig oder branchenmäßig eine größere Gruppe umfassen?

Nicht unbedingt. Wir unterscheiden drei Typen von Krisen. Das Erste sind die bilanziellen Krisen, also die Insolvenzen. Davon gibt es im Jahresschnitt, wenn es schlecht läuft, etwa 20.000 in Deutschland. Bezogen auf die rund 3,5 Millionen umsatzsteuerpflichtigen Unternehmen, ist das nicht besonders viel. Hier bewegt man sich also im Bereich von 0,5 oder 0,6 Prozent.

Der zweite Typ von Krisen sind die kommunikativen Krisen, also Skandale. Mal sind Unternehmen angeblich scientologyhörig oder ihre Produkte kontaminiert. Mal behandeln sie ihre Leiharbeiter mutmaßlich schlecht.

Und das Dritte sind die operativen Krisenfälle. Diese werden heute auch gerne als „Business Continuity Fälle“ bezeichnet – also Unregelmäßigkeiten im Betriebsablauf. Aktuell sehen Sie das bei Tesla im Großraum Berlin. Dort musste die Produktion vorübergehend heruntergefahren werden, weil Zuliefererschiffe wegen der Angriffe der Huthi-Rebellen derzeit nicht mehr durch den Suezkanal fahren können.

 

Werden deshalb die Krisen auch unterschiedlich bewertet?

Zumindest bei bilanziellen Krisen erfolgt die Bewertung eigentlich ganz objektiv. Man schaut in die Bilanz oder in die Gewinn-und-Verlust-Rechnung und kann dann sagen, ob die Firma überschuldet oder zahlungsunfähig ist oder ihr die Zahlungsunfähigkeit droht.

Bei den kommunikativen Krisenfällen betrachtet man meistens, wie der Fall in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Nur weil eine Mitarbeiterin unzufrieden ist und in einem Internetportal etwas Schlechtes über das Unternehmen schreibt, muss das nicht der Wahrheit entsprechen und wäre auch noch keine Krise. Wenn aber die 20-Uhr-Tagesschau über den Vorgang berichtet oder er auf der Titelseite des „Spiegel“ landet, dann ist das durchaus eine kommunikative Krise. Es kommt also auf die Fallhöhe bei der Reputation an.

Bei den operativen Krisenfällen geht es dagegen eher um die Frage, inwieweit der Betriebsablauf gestört wird. Das hatten wir beispielsweise Anfang 2010. Damals waren viele EC-Karten in Deutschland blockiert und mussten ausgetauscht werden. Der Vorfall ist deswegen bei uns als Krisenfall registriert worden, weil eine sehr große Zahl von Personen, rund 200.000 bis 300.000, davon betroffen war. Oder nehmen Sie das Dieselgate, also die Manipulation der Abgaswerte bei VW. Der Fall ist dadurch zum Krisenfall geworden, weil er zum einen medial sehr stark beachtet wurde – mit einem erheblichen Reputationsverlust. Und zum anderen auch operativ in der ersten Liga spielte – wegen der Vielzahl an betroffenen Fahrzeugen.

 

Wenn man heute beispielsweise die Bauernproteste verfolgt, kann der Eindruck entstehen, es stecke politisches Kalkül dahinter. Ist das ein Thema im Krisenmanagement?

Ja, das ist es. Wir unterscheiden zwischen betriebswirtschaftlichen Krisen, bei denen die Verantwortung letztlich beim Unternehmer liegt. Er hat halt nicht gut gewirtschaftet oder nicht rechtzeitig die Kreditlinien verlängern lassen. Und den volkswirtschaftlichen Krisen, die die ganze Branche betreffen. Ein Teil der volkswirtschaftlichen Krisenfälle ist durchaus politisch stimuliert. Das haben Sie auch aktuell bei den Bauernprotesten gesehen. So wird beispielsweise als Reaktion auf die Proteste die Einführung einer Fleischsteuer angekündigt. Diese wiederum wird der Öffentlichkeit als „Tierwohlabgabe“ und den Landwirten als „Entgegenkommen“ verkauft. Das ist natürlich Quatsch. Vielmehr möchte die Bundespolitik die Menschen durch künstliche Verteuerung drängen, weniger Fleisch zu essen. „Zwangsveganisierung“ hat man das im bayerischen Wahlkampf genannt. Dieser politische Streit wird auf dem Rücken der Landwirte ausgetragen. Sie werden dadurch mittelfristig gezwungen, ihre Tierbestände zu reduzieren. So etwas hatten wir schon einmal in den Niederlanden – und das ist dort gewaltig nach hinten losgegangen. Im Oktober 2019 hat die holländische Regierung angekündigt, die Tierbestände in landwirtschaftlichen Betrieben „aus Klimaschutzgründen“ etwa halbieren zu wollen. Das fanden die Landwirte naturgemäß gar nicht gut. Durch die Corona-Pandemie ist das Thema dann etwas in den Hintergrund gerückt. Im März 2023 kam es mit voller Wucht zurück. Auch die Konsumenten haben sich dem Protest angeschlossen. Sie wollten weiterhin Fleisch essen dürfen – und das auch in der bisherigen Menge. Aus der Protestbewegung ist schließlich die "Bauer-Bürger-Bewegung" als Partei entstanden. Sie wurde bei der Wahl für die Provinzparlamente in vielen Provinzen überraschend stärkste Kraft. Im Ergebnis ist es also keine gute Idee, wenn sich die Politik zu stark in die Marktwirtschaft einmischt.

 

Haben wir heute eigentlich mehr Krisen als früher?

Nein, das haben wir nicht. Am Institut für Krisenforschung in Kiel haben wir rücklaufend bis in die frühen 1980er-Jahren die ganzen größeren Krisenfälle im deutschsprachigen Europa archiviert und analysiert. Ein Blick in unser Krisenarchiv zeigt, dass die Zahl der Fälle pro Jahr recht konstant geblieben ist. Auch inhaltlich hat sich wenig verändert. Die Krisenfälle, die wir heute erleben, hat es vor 20 Jahren alle schon mal gegeben – nur in umgekehrter Reihenfolge. Damals machten im Herbst 2001 der Krieg gegen den Terror nach den Anschlägen in Nordamerika und die wirtschaftlichen Verwerfungen durch den Zusammenbruch der New Economy den Anfang. Im Sommer 2002 folgte dann die Jahrhundertflut in Mitteleuropa und im November 2002 die Sars-Pandemie. Jetzt – also 20 Jahre später – stand die Corona-Pandemie am Anfang. Dann kamen die Flut im Ahrtal, der Russland-Ukraine-Krieg und schließlich die schrumpfende deutsche Wirtschaft. Weder der Typ noch die Intensität der Krisen sind neu. Wir erleben zurzeit einfach nur die Wiederholung einer relativ krisenreichen Zeit.

 

Ist es dann nur eine Wahrnehmungssache oder nehmen wir die Krisen dieses Mal auch nicht anders wahr, als es früher war, Fukushima oder so was?

Weniger die Wahrnehmung als vielmehr der Umgang mit Krisen durch die Politik hat sich verändert. Nehmen Sie beispielsweise das Wort des Jahres 2023 – „Krisenmodus“. Als es im Dezember 2023 bekannt gegeben wurde, haben sich viele Menschen verwundert die Augen gerieben, weil sie das Wort gar nicht kannten. Die von der Bundesregierung geförderte „Gesellschaft für deutsche Sprache“ wies sofort daraufhin, dass nicht die Häufigkeit eines Ausdrucks, sondern vielmehr seine „Signifikanz und Popularität“ entscheidend sind. Das klingt wahlweise belehrend oder widersprüchlich. Populär und kaum genutzt? In die gleiche Kerbe schlug Robert Habeck als er sich bei „Anne Will“ „von der Wirklichkeit umzingelt“ sah. Früher nannten Politiker das ganz einfach „Realität“ und haben mit ihrem Krisenmanagement darauf reagiert. Gerhard Schröder hat als Reaktion auf die wirtschaftliche Delle in den frühen 2000er Jahren kurzerhand die Agenda 2010 auf den Weg gebracht. Bei Angela Merkel und Peer Steinbrück hieß es während der Finanzmarktkrise kurz und knapp "Die Spareinlagen sind sicher" – und sie waren es auch. Heute tut die Bundespolitik so, als seien die Krisen unserer Zeit etwas ganz Besonderes – frei nach dem Motto: „Wir sind die Ersten, die so kämpfen müssen“. Im Ergebnis also viel Krisenstimmung und wenig zielführendes Krisenmanagement.

 

Wie können sich nun Sicherheitsverantwortliche in Unternehmen auf ein solches Szenario vorbereiten?

Zunächst einmal sollten sie sich nicht allein auf die politischen Krisenmanager verlassen, sondern selbst aktiv werden. Eine gute Orientierungshilfe bieten zwei Standards. Zum einen die DIN-Norm 22361 zum Krisenmanagement aus dem Februar 2023. Sie liefert Antworten auf Fragen wie: Was muss ich in der Krisenkommunikation vorbereiten? Wie führe ich einen Krisenstab? Wer ist als Krisenmanager geeignet? Und zum anderen der BSI-Standard 200-4 zum Business Continuity Management aus dem Juni 2023. Er verknüpft das Management von betriebswirtschaftlichen Krisen mit volkswirtschaftlichen Risiken. Damit ermöglicht er zum einen eine Absicherung gegen Prozessstörungen. Was ist beispielsweise zu tun, wenn der Server ausfällt? Zum anderen behält er die globalen Risiken im Blick – wie unterbrochene Lieferketten durch Bahnstreiks oder Handelsembargos. Aus unserer Erfahrung lassen sich damit etwa 70 bis 80 Prozent der Krisenfälle im Tagesgeschäft gut bewältigen.

 

Würde das auch heißen, dass die Leute besser ausgebildet werden oder besser informiert werden müssen?

Nicht unbedingt besser, aber anders. Wir führen in Kiel seit über 20 Jahren ehrenamtlich die Geschäftsstelle der Deutschen Gesellschaft für Krisenmanagement. Das ist der Berufsverband der Krisenmanager. Dabei bemerken wir einen deutlichen Wandel: Früher war es üblich, dass man klassische Sicherheitsfunktionen gerne mit ehemaligen Zeit- und Berufssoldaten besetzt hat. Nach 12 oder 30 Jahren bei der Bundeswehr bringen die jede Menge Berufs- und Krisenerfahrung mit – beispielsweise durch Auslandseinsätze. Sie haben verinnerlicht, wie man mit neuen Situationen umgeht, für die es keine Checkliste gibt. Heute sitzen uns in den Lehrgängen oft Personen gegenüber, die aus der kaufmännischen oder technischen Ecke kommen. Ihnen fehlt es nicht unbedingt an Krisenfachwissen – das bringen wir ihnen schon bei, sondern an Führungserfahrung in kritischen Situationen. Was mache ich, wenn mein Krisenplan zu Ende ist, aber die Krise weiter geht? Wie verteile ich die Aufgaben, wenn mir nur ein Bruchteil meines Teams laut Krisenhandbuch zur Verfügung steht? Das Fachwissen kann schnell vermittelt werden. Aber das echte Führungswissen lehrt eigentlich nur das Leben oder ständiges Üben.

 

Ergibt sich daraus die Forderung, das Krisenmanagement zentraler zu steuern?

Nein, ganz im Gegenteil: Dezentrales Krisenmanagement ist der Weg zum Erfolg. Ich war sowohl Mitglied im Corona-Expertenstab der Schleswig-Holsteinischen Landesregierung in Kiel als auch als Sachverständiger im Untersuchungsausschuss zur Flutkatastrophe im Ahrtal. In der Corona-Pandemie haben wir gesehen, dass nur ein dezentraler Ansatz einen echten Wettbewerb um die beste Lösung ermöglicht. Beispielsweise sind wir im Ostsee-Tourismus während der Pandemie einen ganz anderen Weg gegangen als Mecklenburg-Vorpommern – und waren erfolgreicher. Hier hat sich also der Wettbewerb um die beste Lösung ausgezahlt. Auch bei Naturkatastrophen – wie der Flut im Ahrtal – wäre eine zentrale Steuerinstanz wie das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe schnell überfordert. Die Ortskenntnisse der dezentralen Helfer und kurze Wege zwischen dem dezentralen Stab und den einzelnen Einsatzabschnitten sind durch nichts zu ersetzen.

 

https://www.roselieb.de/

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Peter Niggl

Peter Niggl, Journalist und Chefredakteur der Fachzeitschrift Security Insight