Urteil des EuGH vom 17.12.2020 zur Bauproduktenverordnung und harmonisierten Normen
Das (Berufungs-) Urteil des EuGH betrifft zwei Klagen der Bundesrepublik Deutschland gegen die Kommission, die vom EuG 2019 bereits abgewiesen worden waren und gegen die Deutschland unter einem Streitbeitritt Finnlands Berufung eingelegt hatte. Das Urteil ist für alle am Bau Beteiligten von Bedeutung, die Verantwortung für die Auswahl und den Einsatz von Bauprodukten tragen, die aus Sicht der Bauaufsicht sicherheitsrelevant sind, wozu insbesondere der Brandschutz und die Standsicherheit aber auch der Wärmeschutz und der Schallschutz gehören. Auch die Gefahrstoffe, die für die Innenraumluft von Bedeutung sind, darf man nicht vergessen.
Zum Hintergrund des Rechtsstreits
Seit jeher war Deutschland mit der Qualität harmonisierter Normen für Bauprodukte unzufrieden, da eine Reihe dieser Normen nicht alle Anforderungen bzw. nicht alle Prüfmethoden enthalten, die erforderlich sind, um durch Anforderungen an Bauprodukte die Bauwerkssicherheit zu gewährleisten. Deutschland wählte daher über Jahre den Weg, diese harmonisierten Normen national durch Anforderungen in der Bauregelliste und allgemeine bauaufsichtliche Zulassungen zu „ergänzen“. Diese Praxis erklärte der EuGH bereits 2011 für unzulässig, da harmonisierte Normen die Anforderungen an Bauprodukte abschließend regelten. Hintergrund war die Überlegung, dass andernfalls jeder Mitgliedstaat zusätzlich nationale Anforderungen an ein harmonisiertes Bauprodukt stellen könnte und damit die Harmonisierung, die den Handel auf dem Europäischen Binnenmarkt sicherstellen solle, unterlaufen werde. Die Frage, auf welche Weise die Mitgliedstaaten die für die Sicherheit der baulichen Anlagen relevanten „Lücken“ schließen können, blieb aber unbeantwortet. Die Bundesrepublik zog daher ein weiteres Mal vor die Europäischen Gerichte, um diese Frage zu klären.
Die Entscheidung des EuGH
Deutschland stellte mit den Klagen für den Fall einer nicht vollständigen Normung im Kern zwei alternative „Lösungsmöglichkeiten“ zur Diskussion. Zunächst wurden mit Holzfußböden und Parkett sowie Sportböden Bauprodukte ausgewählt, deren Harmonisierung in Bezug auf gefährliche Stoffe unter Verstoß gegen die erteilten Mandate (Normungsaufträge der EU-Kommission) nicht gegeben war und für die die Kommission im Nachhinein auch die zunächst gegebene Möglichkeit einer nationalen Ergänzung durch entsprechende Anforderungen wieder gestrichen hatte. Tatsächlich konnte Deutschland insoweit auf die seit Jahren von der EU-Kommission praktizierte Verfahrensweise verweisen, wonach die Kommission – wegen der Unvollständigkeit der Harmonisierung in diesem Punkt – selbst eine Vielzahl von Normen mit dem Hinweis versehen hatte, dass in Bezug auf gefährliche Substanzen ergänzend nationale Bestimmungen zu beachten sein könnten. Nachdem Deutschland auf diesen Widerspruch hingewiesen hatte, hatte die Kommission diese Passagen aber für unwirksam erklärt und auf diese Weise den Widerspruch aufgelöst, wenn auch auf Kosten der gleichsam anerkannten „Unvollständigkeit“ der Harmonisierung der betreffenden Normen.
Deutschland war hierzu der Auffassung, dass derartige Korrekturen unzulässig seien und die Kommission angesichts der „unstreitigen“ Mängel der Normen die Pflicht gehabt hätte, die entsprechenden Normen im Amtsblatt wieder zu streichen und damit die Harmonisierung zunächst wieder aufzuheben. Alternativ hätte der Verweis auf die nationalen Normen erhalten bleiben müssen, da die betreffende Prüfmethode nicht harmonisiert sei und damit einer nationalen Ergänzung zugänglich bleiben müsse. Als Kernargument verwies Deutschland auf den Umstand, dass andernfalls die Einhaltung der Grundanforderungen an Bauwerke in Bezug auf deren Sicherheit durch die Mitgliedstaaten nicht gewährleistet werden könne. Nachdem die Vorinstanz die Klagen bereits abgewiesen hatte, stellte der EuGH nun abschließend folgendes fest:
- Richtig sei, dass die Kommission im Falle mangelhafter Normen die Möglichkeit habe, eine Norm oder den Teil der Norm, die bzw. der dem Mandat entspricht, ganz oder teilweise im Amtsblatt der Europäischen Union vollständig oder unter Vorbehalt zu veröffentlichen oder zu belassen oder zu streichen. Die Kommission habe aber nicht die Pflicht, in jedem Fall eine Streichung vorzunehmen. Die Entscheidung, wie im vorliegenden Fall vorzugehen sei, habe die EU-Kommission aber ohne offensichtliche Beurteilungsfehler getroffen.
- Die Bauproduktenverordnung gebe der EU-Kommission auch keine Möglichkeit, eine nationale Ergänzung von Normen durch die Mitgliedstaaten zuzulassen. Daher könne Deutschland die Beibehaltung der bisherigen Vorbehalte bzw. Verweise auf nationale Regelungen nicht verlangen.
- Die Bauproduktenverordnung enthalte für den Fall einer unzureichenden Norm auch die Möglichkeit für den Hersteller, die Lücke über eine Europäische Technische Bewertung (ETA) zu schließen.
- Die Kommission habe auch keine Pflicht zu prüfen, ob eine harmonisierte Norm die Einhaltung der Grundanforderungen an Bauwerke ermögliche. Denn der Zweck der Bauproduktenverordnung liege nicht in der Erstellung von (Sicherheits-) Anforderungen für Bauwerke. Für die Bauwerkssicherheit seien vielmehr die Mitgliedstaaten zuständig, die diese über Regeln zum Einbau und zur Verwendung von Bauprodukten sicherstellen könnten. In diesem Rahmen dürften jedoch keine zusätzlichen Anforderungen für harmonisierte Bauprodukte geschaffen werden.
Wie das praktisch funktionieren soll, wenn der Mitgliedstaat keine Anforderungen an das Produkt stellen darf, ließ der EuGH offen. Damit werden auch die am Bau Beteiligten vor ein Problem im Hinblick auf die Produktauswahl gestellt, wenn sie bei harmonisierten Bauprodukten sicherheitsrelevante Leistungsangaben nicht erhalten. Deutschland hatte darüber hinaus auch die Unvollständigkeit der harmonisierten Normen für Tanks beanstandet, da die Norm keine Anforderungen für die Verwendung dieser Tanks in Erdbeben- oder Überschwemmungsgebieten enthalte. Der EuGH beschied Deutschland aber dahin, dass „Tanks in Erdbeben- und Überschwemmungsgebieten“ gar nicht in den Anwendungsbereich der fraglichen Norm fallen würden, so dass insoweit gar keine Harmonisierung gegeben sei. Im Ergebnis wurden die Klagen Deutschland vollständig abgewiesen.
Bedeutung der Entscheidung für Planer
Mit dem Urteil dürfte der EuGH einen Schlusspunkt unter die Diskussion über die (Un-) Zulässigkeit der nationalen Ergänzung harmonisierter Normen gesetzt haben. Es verbleibt daher bei den schon bisher praktizierten Verfahren, wonach die Bauwerksicherheit vor allem über Anforderungen an die Bauwerke zu gewährleisten ist. Das betrifft vor allem die Planer, weil diese bei der Erstellung der bautechnischen Nachweise auf die Angaben des Herstellers, z. B. in Form von Bemessungswerten, zurückgreifen müssen. Sind diese Angaben aber unvollständig, lässt sich der betreffende bautechnische Nachweis auch nicht oder nur mit zusätzlichem Aufwand führen.
Vielen Herstellern ist dies bewusst. Sie könnten die „Lücken“ in harmonisierten Normen durch eine ETA schließen. Das setzt aber ein aufwändigeres Verwaltungsverfahren voraus. Für die Praxis relevanter und wichtiger sind daher die sog. „freiwilligen Angaben“ der Hersteller, denn solche Angaben sind als Ergänzung außerhalb der Leistungserklärung nach wie vor möglich und geben den Beteiligten alle benötigten Angaben an die Hand. Wichtig wäre, dass der Markt, d. h. vor allem die Planer aber eine klare Strukturierung dieser Angaben in Form eines einheitlichen „Siegels“ verlangen. Denn die am Bau Beteiligten können sich nicht bei jedem Produkt erst mit der betreffenden Norm auseinandersetzen. Wie aus Berlin zu hören ist, formieren sich die Verbände und Kammern bereits in diese Richtung.
Von RA Michael Halstenberg, Ministerialdirektor a.D.
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Michael Halstenberg
Michael Halstenberg hat über 20 Jahre in Ministerien auf Landes- und Bundesebene gearbeitet. Er ist seit 2009 als Rechtsanwalt tätig und seit 2018 bei Franßen & Nusser Rechtsanwälte PartGmbH. Seine Beratungsschwerpunkte liegen u.a. im Bauproduktenrecht und im Ingenieur- und Architektenrecht.