Die Schlacht vor dem Stadion
Die Nacht von Gelsenkirchen zeigt eine nie dagewesene Grenzüberschreitung im Verhältnis von Fans und Spielern Bildquelle: Tobias Großekemper
Auf Schalke schlagen wütende Fans auf die Spieler ein
Wenn du rausgehst, bleib ganz ruhig. Sag nichts und beweg dich nicht. Das waren die Gedanken eines Schalker Spielers in der Nacht des 21. April, wie er sie im Nachgang schilderte. Um 1:29 Uhr hielt der Busfahrer vor dem Haupteingang der Arena auf Schalke. Die Spieler stiegen nacheinander aus. Vor ihnen in der Dunkelheit stand ein mehrere hundert Mann starker Mob, darunter vermummte Gestalten, einige mit Quarzhandschuhen und Pyrotechnik.
Als der erwähnte Spieler seinen Plan fasste, unbeweglich dazustehen und alles über sich ergehen zu lassen, wirkte das wie das Verhalten gegenüber Raubtieren, denen man zum eigenen Schutz starr begegnet. Einer der Fans hielt daraufhin eine lange Ansprache, in der er die Spieler derb abkanzelte. Die Polizei blieb außerhalb des Geländes, weil sie sich – wie sie später mitteilte – zu diesem Zeitpunkt noch nicht auf dem Betriebsgelände des Vereins aufhalten durfte. Doch nur wenige Minuten später musste sie alarmiert werden.
Nach der Ansprache eskalierte die Situation, wohl auch nach einer flapsigen Replik aus der Mannschaft. Eier flogen, ein Böller detonierte aus der Menge, dann rannten einige Spieler panisch los und wurden von Teilen der Fans gejagt. Der andere Teil am Bus attackierte wahllos die verbliebenen Spieler und Verantwortlichen mit Schlägen und Tritten. Als sich nach einer knappen Minute die Polizei näherte, flohen die Angreifer in alle Richtungen. Zurück blieb eine Mannschaft unter Schock, einige trugen Hämatome davon, mehrere Autos der Spieler waren demoliert, ein Spieler wurde später von einer anderen Gruppe bis zu seinem Wohnort verfolgt. Er musste aus Sicherheitsgründen im Hotel übernachten. Die Nacht von Gelsenkirchen zeitigte eine nie dagewesene Grenzüberschreitung im Verhältnis von Fans und Spielern.
Erstmals gewalttätige Angriffe auf Spieler
Entgleisungen aus der Fanszene, besonders in sportlichen Krisensituationen, hatte es in Deutschland bereits früher gegeben, gewalttätige Angriffe auf Spieler jedoch nicht. So hatten Fans des 1. FC Nürnberg 2014 die Spieler zur Herausgabe ihrer Trikots aufgefordert, Anhänger des VfL Bochum 2012 die Profis mit Schneebällen beworfen. In Hamburg oder Köln reagierte der Block auf Abstiege mit schwarzer Pyrotechnik. Besonders makaber geriet eine Aktion der Fans in Dresden 2008, die nach der Niederlage ihrer Mannschaft in Paderborn auf dem Trainingsgelände symbolisch elf Gräber aushoben.
In den Köpfen vieler Fans hat sich jedoch offenbar manifestiert, dass die hochbezahlten Spieler Beleidigungen und Bedrohungen qua ihrer herausgehobenen Stellung schlichtweg aushalten müssten. Dieses Phänomen zeigt sich auch bei den erwähnten Ausfällen gegenüber Mandatsträgern, Politikerinnen oder Journalisten. Selbst unter den Spielern ist eine gewisse Akzeptanz für den Unmut bis hin zur Aggression aus der Fanszene vorhanden. Christoph Kramer, späterer Weltmeister und heute bei Borussia Mönchengladbach unter Vertrag, sagte dazu in einem früheren Gespräch über seine Zeit in Bochum: „Wir haben 1:6 in Aue verloren, wurden mit Schneebällen beworfen, die Fans haben uns Schweineköpfe über den Zaun entgegengeworfen, Scheiben eingeschlagen, uns beschimpft und bespuckt – alles zu Recht, weil wir eine unglaubliche Grütze gespielt haben. Das war eine raue und harte Zeit, aber nun einmal lehrreich.“
„…gefühlte Machtlosigkeit führt zu Gewalt“
Wenn aber derlei Aktionen als legitime Reaktion auf sportliche Fehlleistungen durchgehen, können die Grenzen schnell übertreten werden. Das zeigt sich nicht nur im Fußball, sondern auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Beim Sturm auf das Kapitol in Washington oder beim Protest vor dem Berliner Reichstag sah sich die wütende Masse im Recht, weil sie in ihren Augen ja bloß auf die Erniedrigung durch die politisch Handelnden reagierte. „Die Gewalt wird hier als notwendiges Mittel für die Durchsetzung der eigenen Interessen angesehen“, sagt der Sport- und Sozialwissenschaftler Hannes Delto auf Nachfrage. Delto hat an der Universität Bielefeld zu Gewalt- und Konfliktlagen geforscht und findet: „Fußball ist auch hier ein Spiegel der Gesellschaft. Die gefühlte Machtlosigkeit führt zu Gewalt, weil die Betroffenen keinen anderen Ausweg sehen. Es geht ihnen aber dabei nicht nur darum, andere zu verletzen, sondern auch um Inszenierung und Öffentlichkeit.“
Die Berateragentur Sports360 hat kürzlich die Hassbotschaften an die von ihnen betreuten Spieler veröffentlicht, darunter fanden sich schwere Beleidigungen und gar Morddrohungen. Einer der Spieler war Toni Kroos, ebenfalls Weltmeister und Star von Real Madrid, der dazu mitteilte: „Cyber-Mobbing ist ein Problem, das unsere gesamte Gesellschaft betrifft. Was sich einige Menschen hinter anonymen Profilen erlauben, ist weit unter der Gürtellinie, manchmal sogar im strafrechtlichen Bereich.“
Um die (potenziellen) Opfer zu schützen, ist es vor allem wichtig, dass die ersten Grenzübertritte sofort und klar benannt werden – so wie es Toni Kroos und weitere Spieler mit ihrer Botschaft gegen Hasskommentare getan haben.
Dialog um Opfer zu schützen
Mit einer Rückkehr von Zuschauern in die Stadien würde den meisten Fans zumindest wieder die Möglichkeit gegeben, sich auszutauschen, ihre Emotionen zu kanalisieren und auch sich: zu präsentieren und wertgeschätzt zu werden. Der Sozialwissenschaftler Delto sagt: „Die Fans haben jahrelang gesagt: Ohne uns funktioniert der Fußball nicht! Nun mussten sie in der Pandemie mit ansehen, wie alles doch ohne sie weiterlief. Unterschwellig sendete der Betrieb das Signal: Wir brauchen euch nicht!“
Um Opfer zu schützen, hilft hier die Prävention, sprich: Angebote zur Teilhabe und zum Dialog. Auf Schalke hätten sich die Verantwortlichen oder auch Spieler viel früher mit den Fans oder einzelnen Vertretern treffen oder austauschen können, um einen „Showdown“ in der Nacht des Abstiegs zu verhindern. Weiterhin müssen Ansprechpartner und Vermittler, im Fußball sind es die Fan-Projekte, gestärkt werden, damit der Dialog überhaupt stattfinden kann.
Und vor allem dürfen die Opfer nicht dem Mob und seiner Eigendynamik ausgeliefert werden. Schalke hätte auch in der Nacht des Abstiegs noch die Polizei hinzuziehen oder eben das Gespräch mit einzelnen Fan-Vertretern suchen können, so dass die Spieler sich nicht einer Masse der Wütenden gegenübergesehen hätten. Keine Person der Öffentlichkeit muss sich durch seinen Beruf einem Bußgang (im realen Leben oder im Netz) ausliefern – dieses Problembewusstsein muss wachsen.
Immerhin entschuldigte sich der Vorstand, arbeitete die Vorkommnisse in einer langen Sitzung auf und bot seinen Akteuren psychologische Betreuung an.
Was aber bleibt, ist die schlimme Erinnerung an die Vorkommnisse vor der Arena. So wie es ein Spieler schonungslos gegenüber seinen Bekannten ausdrückte: „Die Verantwortlichen haben uns dem Mob ausgeliefert.“
Dieser Artikel ist eine Recherche des WEISSEN RINGS. Erschienen ist er in voller Länge zuerst auf https://forum-opferhilfe.de