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Wir werden uns noch wundern. Oder auch nicht

06.05.2022

Die Themen rund um den Klimawandel und Fragen der Energiepolitik sind seit Jahren omnipräsent. 

Der Unterschied von einem halben Grad kann die Klimaschäden radikal verringern. Foto: Pixabay
Der Unterschied von einem halben Grad kann die Klimaschäden radikal verringern. Foto: Pixabay

Auch, wenn wir selbst vielleicht nicht ausdrücklich an ökologischen Fragen interessiert sind, berühren sie jeden Tag unseren Alltag.

Schauen wir sechs Jahre zurück. Weltklimakonferenz in Paris 2015. Es sollte der Beschluss zur Begrenzung der Erwärmung der Atmosphäre auf 2 Grad gefasst werden. Die AOSIS-Staaten (Alliance of Small Island States) verhinderten den Beschluss und setzten die 1,5 Grad-Grenze durch. Spätestens mit dem IPCC-Sonderbericht 2017 wurde allen, außer den Anhängern des damaligen US-Präsidenten, klar, dass der Unterschied von einem halben Grad die Klimaschäden radikal verringern und die Volkswirtschaften weniger belasten würde. Wäre da nicht die bekannte Neigung der meisten Menschen, unangenehme klimaphysikalische Realitäten zu verdrängen.

Es gibt unterschiedliche Interpretationen der Realität

Erleichtert wird uns die Vertagung von Konsequenzen durch den Umstand, dass die Wissenschaft selbst viele Phänomene auch erst durch die Beobachtung und Untersuchung der sich gerade abspielenden Veränderungsprozesse versteht. Und allzu oft ist es so, wie in der Covid-Pandemie: es gibt unterschiedliche Interpretationen der Realität und noch mehr Meinungen, wenn es um die Prognosen geht. Immer wieder machen Wissenschaftler darauf aufmerksam, dass sich das Klimasystem der Erde durch Tücken und Paradoxien auszeichnet. Ein wenig bekanntes Paradoxum besteht darin, dass beim Verbrennen von Kohle nicht nur wärmendes CO2 entsteht, sondern auch Aerosole. Diese Partikel reflektieren das Sonnenlicht und kühlen. Die Kohleverbrennung bewirkt also beides: erwärmen und kühlen. Der Präsident der Leopoldina, Gerald Haug, erklärte das im Spiegel so: 1,2 Grad Erwärmung der Atmosphäre haben wir  schon. Und gäbe es den kohlebasierten Aerosol-Kühleffekt nicht, wären wir schon heute bei plus 1,55 Grad Celsius.

Als auf dem Weltklimagipfel in Glasgow vor allem um den Einstieg in den Ausstieg aus der Kohleverbrennung gerungen wurde, hatten viele nationale Energiepolitiker auch diese Erkenntnis auf dem Zettel. Vor allem geht es aber zunächst einmal um sehr viel Geld. Bei den Zielen und Prinzipien des notwendigen Transformationsprozesses ist auch deshalb nur in Teilen Einigkeit erzielt worden.

Noch mal der Blick zurück: Vor 6 Jahren gab es die Beschlüsse des Weltklimagipfels von Paris. Seitdem ist vor allem eines passiert. Wir haben viel Zeit verloren. Das Klimaschutz-Urteil des deutschen BGH vom April diesen Jahres war diesbezüglich ein echtes Ausrufezeichen. Auf der bundespolitischen Bühne führte es lediglich dazu, dass ein Minister einen anderen Minister öffentlich angriff:  "Immer blinken für große Klimaziele, aber niemals real handeln, sondern immer ganz hart auf der Bremse stehen." (www.sueddeutsche.de)

Zugenommen hat der politische Protest

Es ist aber nicht zu übersehen, dass die Klimaschutzdebatte in unserem Land deutlich an Fahrt aufgenommen hat. Die Kohle-Agenda der neuen NRW-Landesregierung ist Ausdruck dafür und die immer lauter werdenden Forderungen aus der Wirtschaft nach verlässlichen Rahmenbedingungen und energiepolitischen Entwicklungszielen für die kommenden Jahre. Immer mehr Menschen sind mit dem Tempo der Politik in Bezug auf den Klimaschutz nicht zufrieden. Die September-Wahlergebnisse beinhalten viele Hinweise darauf. Parteipolitisches und außerparlamentarisches Engagement der Bürger und die Artikulation progressiver Klimaschutzziele haben zugenommen.  

Unübersehbar zugenommen haben aber auch öffentlicher Protest und neue Organisationsformen der Klimaschutzbewegungen unterschiedlicher Couleur. Die weitere Zunahme und Zuspitzung der Klima- und Umweltdiskussion enthält nach unserer Einschätzung beträchtliche Potenziale für eine radikale Zuspitzung von Positionen und Protestformen. Wir gehen davon aus, dass die nationale und internationale Auseinandersetzung um sinnvolle und finanzierbare Wege in die weitgehende Dekarbonisierung der Wirtschaft und bei der Deckung des privaten Energiebedarfs Anlass und Raum bieten wird für die Einnahme extremistischer und militanter Positionen. So können Kritische Infrastrukturen der Energieversorger, auch im Kontext polarisierender Diskussionen um die Abhängigkeit von russischen Erdgaslieferungen nach Deutschland, in den Focus extremistischer oder radikaler Gruppierungen geraten.

Im Vorwort zum Verfassungsschutzbericht 2020 führte die Ministerin für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt aus:

„Extremisten instrumentalisieren bestehende gesellschaftliche Probleme und Fragen für eigene Zwecke; Lösungen stehen nicht im Vordergrund, sondern das Verbreiten der eigenen Ideologie. Extremistische Ideologien jedweder Art richten sich gegen grundlegende Werte des demokratischen Verfassungsstaats und gefährden die Freiheit. Mit ihren vermeintlich einfachen Erklärungsmustern für komplexe und miteinander verwobene Fragen finden sie vor allem bei den Menschen Anklang, die Zukunftssorgen haben, die nach Sicherheit und Halt suchen.“

Im Verfassungsschutzbericht 2020 des BfV wird u.a. ausgeführt:[1]

„Der für Teile des Linksextremismus wichtige Versuch der Einflussnahme auf demokratische Diskurse fand 2020 vor allem im Bereich der Klimaproteste statt.“

Der Verfassungsschutz hatte bereits 2019 darauf hingewiesen, dass Extremisten versuchen, sich das große Mobilisierungspotenzial der Klimabewegungen, z.B. von „Fridays for Future“ (FfF) und „Ende Gelände“ zu Nutze zu machen, auch mit dem Ziel der Einflussnahme. Ihnen ist vor allem an einer Entgrenzung zwischen dem bürgerlichen und dem extremistischen Spektrum gelegen.

„FfF“ und „Ende Gelände“ verfolgen zwar die gleichen Ziele, bringen aber ihren Protest unterschiedlich zum Ausdruck. „Ende Gelände“ geht deutlich weiter und setzt auf „Massenblockaden des zivilen Ungehorsams“. Die Bewegung wird seit langem von Gruppen des bürgerlichen als auch des extremistischen Spektrums, insbesondere von der „Interventionistischen Linken“ (IL) und der „Sozialistischen Alternative“ (SAV) unterstützt. Von gewaltorientierten Linksextremisten gehen in einigen Teilen der Bundesrepublik bereits erhebliche Gefahren für die innere Sicherheit aus.

Deutlich erkennbarer Einfluss auf die Radikalisierung

Eine einflussreiche radikale Gruppe ist „extinction rebellion“ (XR)[2]. In einer scheinbar führungslosen Organisation in mehr als 140 Ortsgruppen verfügt die Organisation über ein Mobilisierungspotenzial von mehr als 20.000 Aktivisten. XR vertritt radikalpolitische Antihaltungen, die an Positionen von Attac und Compact anknüpfen.

Bereits vor der Gründung von XR hatte die IL begonnen, klimapolitische Aktionen mit eigenen politischen Ansätzen und deutlichen Kampfansagen für sich zu nutzen. Die IL hat deutlich erkennbaren Einfluss auf die Radikalisierung von „Ende Gelände“ genommen.[3] Die kalkulierte Grenzüberschreitung des legitimen Protestes mit physischer Gewalt, aktiver Suche nach Konfrontation mit der Polizei, Sachbeschädigungen, Sabotage und Randale unterscheiden die Gruppe klar von der Protestkultur von FfF. Wozu die IL mit ihren Aktivisten und Anhängern imstande ist, hat sie anlässlich des G20-Gipfels im Juli 2017 unter Beweis gestellt.

Eine Zuspitzung zeichnet sich schon jetzt ab: Klimapolitik wird zunehmend zu einem Konflikt, der die Gesellschaft polarisiert. Damit zwingen Demonstrationen und Blockaden jeden Einzelnen zur Positionierung. Die Frage der Radikalisierung stellt sich also nicht nur für die „Klimabewegten“, sondern auch für diejenigen, die deren Anliegen oder Haltung ablehnen.

Welche Richtung die Radikalisierung in der Klimabewegung nimmt, ist nicht ausgemacht. Der Weg in die Gewalt ist nicht zwingend. Er ist aber nicht ausgeschlossen. Die größere Gefahr ist die radikalisierende Wirkung der Resignation. Wenn hunderttausende die Erfahrung machen, dass ihr Engagement scheinbar ins Leere führt und die Klimakrise nicht adäquat angegangen wird, sind die Folgen für die demokratische Substanz, für das Vertrauen in das Funktionieren demokratischer Institutionen verheerend.

Die Wahrnehmung, dass die Uhr tickt, hat enorme Sprengkraft. Sie hat das Potential, das immer mehr Menschen eine Haltung entwickeln, die im Wortsinn radikal ist, weil sie darauf zielt, ein Problem bei der Wurzel (lat. radix) zu packen. Unter den gegebenen Bedingungen ist es durchaus plausibel, dass immer mehr Menschen geneigt sein werden, ihren Protest durch begrenzte Regelbrüche zum Ausdruck zu bringen. Hohe Zustimmungswerte zu zivilem Ungehorsam gibt es unter Protestierenden seit Jahren. Aber heute fällt die Zeitnot zusammen mit einem Missverhältnis von gesellschaftlicher Mobilisierung und politischer Reaktion.

Diese Entwicklungen beschäftigen die Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik seit langem und haben Konsequenzen für die Objektschutzkonzepte in vielen Bereichen der privaten Wirtschaft.

Die Wahrnehmung dieser Phänomene durch die Sicherheitsverantwortlichen, Geschäftsführer und Vorstände muss aber auch einen Schub beim Schutz Kritischer Infrastrukturen insgesamt auslösen. Standhafte Objektschutzkonzepte benötigen Vorlaufzeit. Wenn der Schwarze Block am Zaun steht, ist das Erwachen zu spät.

[1] Verfassungsschutzbericht 2020

[2] Extinction Rebellion Deutschland | XR de

[3] Energiekämpfe | Interventionistische Linke (interventionistische-linke.org)

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Jens Washausen

Jens Washausen, ehemaliger Berufsoffizier diente in fallschirmspringenden Spezialeinheiten und war Bereichsleiter Sicherheitswesen der Tengelmann Warenhandelsgesellschaft und Leiter Technik und Vertrieb bei der NEUMANN Elektronik. Er ist Mitglied des Vorstandes des Bundesverbandes unabhängiger deutscher Sicherheitsberater und -Ingenieure BdSI und im Wirtschaftsrat Deutschland aktiv.

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