Brexit: London könnte überfordert sein
Peter Ammon, von 2014 bis 2018 deutscher Botschafter im Vereinigten Königreich, antwortete auf Fragen von Peter Niggl
Herr Ammon, Sie waren zum Zeitpunkt der Entscheidung der Briten für einen Austritt des Landes aus der EU, deutscher Botschafter in London. Welche wirtschaftlichen Interessen oder Erwägungen standen Ihrer Kenntnis nach hinter diesem Votum?
Die Entscheidung, die EU zu verlassen, kam für die allermeisten Beobachter in Großbritannien völlig unerwartet, selbst die Verfechter des Brexits zeigten sich vom Ergebnis des Referendums überrascht. Ursächlich hierfür war eine bis dahin nicht erkannte Koalition aus Protestwählern in den Industriegebieten im Norden, linken Globalisierungsgegnern in den Städten und Nostalgikern auf dem Land, die von dem untergegangenen britischen Empire träumten. Alle drei Gruppen handelten bei realistischer Betrachtungsweise gegen ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen: Die Arbeitsplätze der Industriearbeiter im Norden hängen weitgehend von ausländischen Investitionen z.B. in der Autoindustrie ab, die über die Hälfte ihrer Produktion im EU-Binnenmarkt absetzt. Diese sind jetzt gefährdet.
Die linken Globalisierungsgegner erkannten nicht, dass soziale Mindeststandards auf EU-Recht beruhten, was nun wegfällt. Und die Farmer auf dem Lande beginnen erst jetzt zu spüren, wie hart für sie eine Existenz ohne Brüsseler Agrarsubventionen und mit unsicheren Absatzmärkten auf dem Kontinent werden wird. Die britischen Eliten in der Wirtschaft und in der Londoner City waren mehrheitlich gegen den Brexit eingestellt, da sie einen substanziellen Wachstumsverlust für die britische Volkswirtschaft voraussahen. Es gab aber auch eine kleine Minderheit von Angehörigen der britischen Finanzindustrie, die sich lautstark für den Brexit engagierten. Sie erhofften sich von der Abschaffung der Regulierung durch Brüssel neue Freiheiten für spekulative Geschäfte.
Boris Johnson griff diese Vision eines neuen „Singapore-on-Thames“ auf und verband sie mit unrealistischen Versprechen von neuen, angeblich lukrativen Freihandelsabkommen mit den ehemaligen Kolonien und von finanziellen Vorteilen durch den Wegfall der EU-Mitgliedsbeiträge. Man wird sich streiten können, ob Boris Johnson sich selbst bewusst war, dass diese Milchmädchenrechnungen den Wirtschaftsinteressen des Landes insgesamt massiv schaden würden. Als in der Wolle gefärbter Machtpolitiker hat er aber gespürt, dass eine harte Brexit-Politik ihm einen Pfad zum Regierungssitz in No. 10 eröffnen würde. Dieses Kalkül bestätigte sich dann in einem grandiosen Wahlerfolg Ende 2019.
Inwieweit spielte auch das Gefühl, gegenüber der Rest-EU oder einigen wichtigen Akteuren wie Deutschland benachteiligt zu sein eine ausschlaggebende Rolle?
Trotz eines noch von Maggie Thatcher verhandelten Beitragsrabatts war Großbritannien über die Jahre zum zweitgrößten Netto-Beitragszahler nach Deutschland geworden, ein von den Brexit-Anhängern oft ins Feld geführtes Argument. Ebenso spielte bei manchen in der Gruppe der Empire-Nostalgiker die irrationale Angst vor einem angeblich übermächtigen Deutschland, dessen Vormachtstreben man in zwei Weltkriegen militärisch zurückgeworfen hatte, eine Rolle.
Die in den letzten Jahrzehnten stattgefunden Übertragung von immer mehr Kompetenzen von den Nationalstaaten auf die EU sowie das von der EU propagierte Ziel, eine „ever closer Union“ (also einer immer weiter gehende Vertiefung der Union) zu schaffen, vertiefte bei vielen die Sorge, künftig bei Abstimmungen nach dem Mehrheitsprinzip die eigenen britischen Interessen nicht mehr durchsetzen zu können. Kurz gesagt: Man befürchtete die Entstehung eines europäischen Superstaats, wohingegen die Briten von einer großen Freihandelszone träumten, in der die Mitgliedsstaaten und nicht die EU-Kommission das Sagen haben.
Hieße „große Freihandelszone“ nicht gleichzeitig, dass man sich durch eine „Anpassung“ der Standards gegenüber den Mitbewerbern gewisse Vorteile verschaffen möchte? Und würde dies nicht zwangsläufig die EU in Zugzwang bringen?
Im Prinzip ja. Boris Johnson ist ja in die Brexit-Verhandlungen mit Brüssel mit der Vorstellung hinein gegangen, dass das existierende Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada (CETA) ein Vorbild sein könnte. Dieses sieht Zollfreiheit im Handel für die allermeisten Waren vor, unterwirft aber Kanada nicht vollständig der Regulierung des Binnenmarkts durch die EU-Kommission. Brüssel hat dieses Modell abgelehnt, da der Handel zwischen Europa und Großbritannien vom Volumen her und wegen der geografischen Nähe nicht mit dem mit Kanada vergleichbar ist.
London hatte auch gehofft, eine Verständigung über die gegenseitige Anerkennung der Standards des jeweiligen anderen Partners (Mutual Recognition Agreement – MRA) zu erzielen. Solche MRAs existieren beispielsweise schon lange hinsichtlich Sicherheitsstandards von Luftfahrzeugen zwischen der EU und den USA. Zollfreier Warenverkehr über den Ärmelkanal ist aber schlecht vorstellbar, wenn Großbritannien nach dem Brexit seine Standards einseitig absenken kann und dann seine Produkte im EU-Binnenmarkt billiger als die Konkurrenz vom Kontinent anbieten würde, nur weil es sich künftig nicht mehr z.B. an europäische Sozial- und Umweltstandards halten muss oder weil die britische Regierung wichtige Industriezweige in Zukunft subventioniert.
Die Frage äquivalenter Standards spielte auch eine große Rolle bei den Verhandlungen über die Finanzindustrie. Das Clearing von Derivaten, ein einträgliches Geschäft für die Londoner City, wird künftig dort nur dann möglich sein, wenn die EU-Kommission bescheinigt, dass die britische Regulierung äquivalent zu der der EU ist. Um den Geschäftsbetrieb über das Ende der Übergangsphase Ende dieses Jahres sicherzustellen, hat die EU die Äquivalenz für die folgenden 18 Monate bestätigt; nach Ablauf dieser Frist hat es die EU-Kommission in der Hand, den Handel mit europäischen Derivaten in London auszusetzen.
„Wer Lust auf Horrorszenarien hat, der muss Vertreter großer Banken nur auf die Abwicklung von Derivategeschäften (Clearing) nach dem Brexit ansprechen“, schrieb das „Handelsblatt“ schon vor drei Jahren. Kann ich Ihren Worten entnehmen, dass der Handel mit hoch riskanten Derivaten nach dem Brexit die Gefahr einer Finanzkrise deutlich erhöht?
Nicht zwangsläufig, solange er vernünftig reguliert bleibt. Das Volumen dieses Marktes, der in der Londoner City abgewickelt wird, ist gigantisch und beträgt viele Billionen Euro. Auch Großbritannien, das hierfür den „Backstop“ liefert, hat ein überragendes Interesse an dessen Stabilität. Ich erwarte deshalb in diesem Sektor keine Abenteuer.
Sollte der Handel mit in der EU originierten Derivaten (ich hörte von Schätzungen, dass diese ungefähr ein Viertel des Gesamtgeschäfts ausmachen) allerdings nach Ablauf der achtzehn-Monate Frist das Land verlassen müssen, würde Großbritannien erhebliche finanzielle Verluste erleiden. Traditionell hat das Vereinigte Königreich eine tiefrote Außenhandelsbilanz mit Gütern, die durch Überschüsse in der Dienstleistungsbilanz schon bisher nicht ganz kompensiert werden konnte. Hinzu kommt eine durch die Corona-Krise bedingte Verschuldungsorgie des Staates, die im Wesentlichen durch weitere Kapitalimporte finanziert werden muss. Die kürzlich erfolgte Herabstufung Großbritanniens durch eine Ratingagentur ist ein erstes Warnzeichen.
Der Verband der Pharmaindustrie hat seinen Mitgliedsunternehmen mit Blick auf einen harten Brexit empfohlen, alle Vorkehrungen für den „Worst Case“ zu treffen. Was könnte dieser „Worst Case“ für die Unternehmen – und die Allgemeinheit – in der EU bedeuten?
Die Verhandlungen befinden sich momentan in der Endphase, so dass man heute noch nicht sagen kann, wie wahrscheinlich ein „Worst Case“ Szenario ist. Grundsätzlich bin ich aber optimistisch, dass man trotz aller Drohgebärden aus London zu mindestens mit einem Basis-Abkommen rechnen kann, dass die Einführung von Zollkontrollen und Quoten an den Grenzabfertigungsstellen verhindern würde.
Sollte ein solches aber nicht erreicht werden, müsste der Handel auf der Basis von WTO-Regeln stattfinden, was zahllose Probleme aufwerfen würde. Einige Beispiele: Beide Seiten müssten künftig z. B. Zölle in Höhe von 10 Prozent auf importierte Kfz erheben, und es würden komplizierte Diskussionen um den Anteil an „local content“ von Produkten losgehen. Allein der Mangel an qualifiziertem Zollpersonal würde zu endlos langen Lkw-Staus an den Grenzen führen, was die Lieferketten z. B. in der Automobilindustrie empfindlich stören würde. Die Landerechte für Fluggesellschaften müssten neu ausgehandelt werden, die Zulassung von Medikamenten usw. wäre nicht mehr automatisch gegeben. Es entfiele künftig die gegenseitige Anerkennung von Berufsabschlüssen, Sicherheits-Zertifizierungen von Produkten und das Recht, sich auf staatliche Ausschreibungen auf der anderen Seite des Ärmelkanals zu bewerben. Reisende aus der EU dürften sich voraussichtlich nur noch drei Monate visafrei im Vereinigten Königreich aufhalten; wie aus dem Home Office zu hören ist, sollen EU-Bürger bei Anträgen auf Arbeits-Visa dann Bewerbern aus allen anderen Teilen der Welt gleich gestellt werden und Auflagen hinsichtlich Mindesteinkommen etc. erfüllen müssen. Studenten aus der EU, die derzeit Studiengebühren von ca. 9000 britischen Pfund zahlen, müssten mit einer Verdreifachung der Kosten rechnen.
Diese Liste ließe sich beliebig verlängern. Die Beispiele zeigen, wie komplex die Verhandlungen sind; intern hört man, dass die Vertragsentwürfe schon über 1000 Seiten stark sind.
Aus persönlicher Beobachtung habe ich aber noch eine weitere Befürchtung: Die britische Verwaltung unter Boris Johnson hat sich in letzter Zeit schwergetan, flexibel und kompetent auf große Veränderungen zu reagieren. Die Reaktion auf Corona, die viermal so viel Tote gekostet hat wie in Deutschland, ist nur ein Beispiel. Sollte diese Administration mit zahllosen neuen Regelungen nach einem harten EU-Austritt konfrontiert werden, könnte dies leicht in Überforderung enden.