Mit Krisenteams in der Ukraine
Herr Vogt, die Firma Claas ist einer der weltweit führenden Landtechnikhersteller. Der Krieg in der Ukraine rückt gegenwärtig die globale Lebensmittelversorgung in den Fokus des internationalen Interesses. Sozusagen das Betätigungsfeld Ihres Unternehmens. Wie definieren Sie, als Leiter Konzernsicherheit und Datenschutzbeauftragter des Unternehmens, in dieser Situation ihr Aufgabengebiet?
Das Sicherheitsmanagement bei Claas versteht sich als „Business-Enabler“ und ist engstens verzahnt mit allen relevanten Fachbereichen des Unternehmens. In Zeiten der Krisen und Ungewissheiten kommt dem Krisenmanagement, also dem Umgang mit Szenarien, für die man keine ständige Aufbauorganisation bereithält, eine besondere Bedeutung zu…
…und das bedeutet bei der aktuellen Situation?
Dass wir, wie viele Unternehmen gerade aus der Bewältigung einer zweijährigen „Dauer-Krisenlage“ kommen, einer global wirkenden Pandemie, mit über die Welt laufenden verschiedenen „Infektionswellen-Ausprägungen“, die begrenzt vorhersehbar waren und die Lieferketten unter eine enorme Anspannung, aber auch Überlastung geführt haben und weiter führen. Außerdem waren behördliche Maßgaben wie Home-Office-Verpflichtungen, Versammlungs- und Veranstaltungsverbote, Quarantänemaßnahmen, aber auch der Ausfall von zahlreichen Mitarbeitenden zu managen. Die Lieferketten haben sich noch gar nicht richtig erholen können, da trifft uns als Unternehmen mit dem Krieg in der Ukraine in seiner einer über hundertjährigen Geschichte und derzeit weltweit fast 12.000 Mitarbeitern nun eine weitere Krise von großem Ausmaß.
Konkret bedeutet das…
…, dass die „alte“ Krise der Pandemie, die gerade mit erheblichen „Lock Downs“ in China eine neue Liefer- und Wirtschaftsleistungsproblematik in vielen Bereichen aufwirft – weiterhin im Krisenmodus mit einer „besonderen Aufbauorganisation“ bearbeitet werden muss – und die „neue“ Krise des Kriegsszenarios „Ukraine“ mit enormer Wirkmacht auf die Bühne tritt. Damit sind neben allen bestehenden Geschäftsprozessen, die unter höchster Anspannung, vor allem durch Lieferprobleme, stattfinden, zwei Krisenszenarien parallel zu bewältigen. Diese beschäftigen ein zentrales Krisenteam, aber auch die lokalen Krisenteams, die unter höchster Anspannung ihre Arbeit machen.
Können Sie die Arbeit und die Aufgaben eines Krisenteams noch etwas genauer beschreiben?
Krisenteams müssen neben den Kernmitgliedern durch Experten aus den relevanten Fachbereichen verstärkt werden. In der „Ukrainekrise“ bedeutet dies konkret, dass vor allem die Prozesse „Einkauf, Logistik und Außenwirtschaft, aber auch HR“ zusätzlich unter „Stress geraten“. Beim aktuellen Stand der Dinge ist kein schnelles Ende in Sicht. Es zeigt sich aber auch, dass die Vorbereitung auf Krisenszenarien, die gute Funktion von Krisenteams und eine gute „Ablauforganisation“, einen entscheidenden Beitrag für die Erreichung von Geschäftszielen leisten können.
In diesem Zusammenhang muss ich betonen, dass dem Krisenmanagement, insbesondere die Vorbereitung auf Notfälle und Krisen in Zeiten der Ungewissheiten, eine immer entscheidendere Rolle zukommt. Zwar können weder eine Pandemie noch ein Kriegsszenario ausreichend vorhergesehen werden, aber Vorbereitung und Training von Krisenstrukturen führen im „Einsatzfall“ zu bestmöglicher „Resilienz“; d.h. bezogen auf Claas: wir knicken nur begrenzt ein, reagieren mit Flexibilität und Biegsamkeit wie „Getreide im Wind“. Unser Unternehmen führt die Geschäftsziele bestmöglich weiter und steht schneller wieder aufrecht, als andere.
Wie muss man sich das im Fall der Ukraine-Krise genauer vorstellen?
Vordringlichstes Ziel unseres Unternehmens war es in dieser „Krise“ natürlich unsere Mitarbeitenden schon vor Beginn des Krieges bestmöglich auf die verschieden wahrscheinlichen Szenarien vorzubereiten. Ich muss gestehen: das jetzige Kriegsszenario hatte bis kurz vor Ausbruch der Kämpfe eine Wahrscheinlichkeit von „nur etwa 25 Prozent“ in unseren Überlegungen; trotzdem waren unsere „Claasianer“ darauf vorbereitet, soweit man sich auf ein solches Szenario Überhaupt vorbereiten kann. Es wurden Relocations-Überlegungen diskutiert und bewertet, die Expatriates mit Evakuierungsoptionen vertraut gemacht und Notfallversorgungsthemen zur Grundversorgung adressiert. Die Sicherheit der Mitarbeitenden steht aktuell im Fokus aller Maßnahmen.
Das betrifft die Betriebsstätten in der Ukraine?
In der Ukraine hat Claas keine Produktion, sondern eine leistungsstarke Vertriebsgesellschaft. Wir produzieren dort zwar keine Maschinen, konnten jedoch jederzeit die Lieferung von Ersatzteilen und Maschinen gewährleisten, bis heute.
Wo liegen in der gegenwärtigen Situation die Prämissen für die Sicherheit Ihres Unternehmens?
In den ersten Kriegstagen konnten wir im Bereich Corporate Security Evakuierungen aus umkämpften Gebieten umsetzen und unseren Mitarbeitenden damit die Lösung anbieten, in „sicherere Gebiete“ innerhalb der Ukraine zu gelangen. Nicht alle haben aus den verschiedensten, auch privaten Gründen solche Angebote angenommen; dafür muss man Verständnis haben und damit situativ umgehen.
Strategischer Ansatz bei Claas war es, im „relativ sicheren“ Westen der Ukraine einen neuen „Stützpunkt“, wir haben das den „Claas Hub“ genannt, aufzubauen und von dort aus den Handel mit Landmaschinen in der Ukraine, eine „Kornkammer Europas“, bestmöglich weiter zu unterstützen. Gleichzeitig muss gesagt werden, kein Ort in der Ukraine ist gegenwärtig wirklich „sicher“ im Vergleich zur Situation, in der wir in Deutschland bzw. Westeuropa leben. Ich kann aber sagen, dass nur wenige Mitarbeitende wirklich ihr Land verlassen wollten.
Die gegenwärtige Lage - Mitte Mai - stellt sich folgendermaßen dar: Kiew wird immer stabiler; die Botschaften werden mit „Rumpfpersonal“ hochgefahren; die Firmen bauen ihr Geschäft auf und so haben auch wir Pläne kurzfristig wieder unseren Standort in Kiew zu besetzen.
Die „Neue Zürcher Zeitung“ vermerkte Mitte Mai: Der Ukraine drohe „ein landwirtschaftliches Desaster.“ In den umkämpften Gegenden lägen Felder brach, niemand wisse, ob es den Bauern gelingen wird, das Wintergetreide einzuholen und wieder auszusäen. Welche Erkenntnis besitzen sie hierzu?
Wenn Sie nach Ernteausfällen fragen, kann ich sagen: Nach unseren Informationen konnte nur etwa die Hälfte der Aussaat „ausgebracht“ werden. Schwerpunkt ist natürlich die Ernährung von Menschen, der Anbau von Futterpflanzen ist massiv reduziert, ein großes Problem für die gewohnten Abnehmer.
Eines ist klar: Nur wenn wir weiter die Ukraine gut mit Maschinen und Ersatzteilen unterstützen können und es die militärische Lage zulassen wird, kann auch das geerntet werden, was ausgesät werden konnte.
Nun umfasst moderne Landtechnik bisweilen technisch sehr komplexe Maschinen. Wer kann diese noch bedienen, wenn zum Beispiel das bisherige Bedienpersonal zum Kriegsdienst eingezogen wird?
Dazu muss gesagt werden: Das Bedien- und Servicepersonal für unsere Erntemaschinen und Traktoren wird vor Ort in der Ukraine ausgebildet, auch durch unsere starke und langjährig etablierte Händlerorganisation. Die Landwirtschaft ist für die Ukraine ein sehr bedeutender Sektor, deshalb gibt es hier auch Ausnahmen von der Wehrdienstverpflichtung; das betrifft somit auch Mitarbeiter von Claas, die dann nach Einzelentscheidung arbeiten „dürfen“.
Wie gefährdet sind ihre Landmaschinen?
Unsere Händler berichten von mehreren Fällen und es gibt entsprechende Videoaufnahmen und auch Medienberichterstattung, wie Zuletzt im „Spiegel“, dazu, dass die russischen Kräfte Landmaschinen, Ersatzteile, aber auch Saatgut und Erntegut in „Richtung Osten“ abtransportieren also „stehlen“. Auch das wird die Situation in der Ukraine für die Ernte erschweren. Da es aktuell offensichtlich keine weiteren größeren Geländegewinne für die russischen Kräfte gibt, begrenzt sich das auf die gegenwärtig besetzten Gebiete im Osten und gestaltet sich daher nicht „zunehmend“.
Ein weiterer, nicht zu vernachlässigender Punkt ist die Einsatzfähigkeit der Maschinen. Die Versorgung mit Benzin war insbesondere durch entsprechende Angriffe der russischen Kräfte auf große Treibstofflager zuletzt angespannt. Hier bestehen jedoch Unterstützungsinitiativen durch Europa und unsere Einschätzung ist, dass die hochpriorisierten landwirtschaftlichen Aktivitäten nicht an Benzin- oder Dieselmangel leiden werden.
Das „Bayerische Landwirtschaftliche Wochenblatt“ schrieb Mitte Mai zur Situation in der Landwirtschaft in der Ukraine: „Es dauert Jahre und Jahrzehnte, bis die Bauern das verminte Land wieder sorglos bearbeiten können.“ Was resultiert daraus für Sie?
Nach den mir vorliegenden Information ist es tatsächlich so, dass es sich dabei um Flächen handelt, die zumindest zeitweise eine militärische Relevanz für die russischen Kräfte hatten und dann auch vermint wurden; somit wären das keine Maßnahmen, mit denen Russland, über den Diebstahl von Maschinen und Ersatzteilen hinaus, beabsichtigt, die ukrainische Landwirtschaft zu beeinträchtigen.
Welches Fazit können Sie aus den bisher gewonnenen Erfahrungen auf diesem Gebiet ziehen?
In dieser Krise sind viele Fachbereiche in unserem Unternehmen engagiert eingebunden, um der Erfüllung der Geschäftsziele, trotz Krieg, bestmöglich gerecht zu werden. Der Bereich Konzernsicherheit und überhaupt das Thema Sicherheit kann seinen Wert als „business enabler“ natürlich in solchen Lagen besonders gut darstellen und seine Wichtigkeit für die Zielerfüllung unter Beweis stellen.
Zum Schluss vielleicht noch ein paar Gedanken, Herr Vogt, die Sie aus dieser aktuellen Erfahrung in ihr Engagement als Vorstandsvorsitzender der Allianz für Sicherheit in der Wirtschaft, ASW West, wie auch als Mitglied des Bundesvorstandes des ASW, in die Tätigkeit ihres Verbandes einfließen lassen werden.
Für die Zukunft wird das Thema „geopolitische Risiken“, aber auch eine nochmalige Professionalisierung im Bereich der Notfall- und Krisenthemen nach meiner Einschätzung weiter voranzutreiben sein. Insgesamt kommt dem Wirtschaftsschutz, und das erkenne ich auch durch mein ehrenamtliches Engagement in der Allianz für Sicherheit in der Wirtschaft auf Landes- und Bundesebene, eine immer höhere Bedeutung zu. Das ist auch notwendig. Weitere Gefahren und Risiken, insbesondere die steigende Gefahr von Cyberattacken, der Energieversorgung und aus meiner Sicht das teilweise noch unterschätzte hohe Risiko eines umfassenden „Blackouts“ führen das Ganze zu einem „hochtoxischen Cocktail von Risiken“ zusammen, den es in dieser Form so seit Jahrzehnten, wenn nicht sogar noch nie, gegeben hat. In diesem Zusammenhang möchte ich noch in eigener Sache gerne auf die Veranstaltung der ASW West e.V. am 24. August 2022 in der BayArena in Leverkusen verweisen. Das Thema spiegelt die Brisanz der gegenwärtigen Situation wider: „Die Bedeutung von Sicherheit in Zeiten von Ungewissheit und Krisen“.
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Peter Niggl
Peter Niggl, Journalist und Chefredakteur der Fachzeitschrift Security Insight