Hass und Gewalt - eine diffuse Front gegen das System
Menschen, deren Wertevorstellungen offensichtlich völlig aus dem Ruder zu laufen scheinen, sind zu Attacken gegen Menschen bereit Bildquelle : StockSnap/Pixabay
Ob Mediziner, Medienmacher oder Mobilfunkmasten - die neue Protestbewegung hat viele Ziele
In Krisenzeiten suchen die Menschen nach Sündenböcken. Mit ihnen werden komplizierte Zusammenhänge simplifiziert. Persönliche oder allgemeine Miseren sollen ein Gesicht bekommen. Wurden die Geächteten im Mittelalter noch an den Pfahl gebunden und verbrannt, so werden sie heute „nur“ an den politisch-medialen Pranger gestellt. Aber es gibt auch gefährlichere Tendenzen.
Nachdem am späten Nachmittag des 1. Mai dieses Jahres ein Team der ZDF-Satiresendung „heute show“ in Berlin von einer Gruppe Vermummter überfallen worden war, zeigte sich der Reporter und Comedian Abdelkarim Zemhoute fassungslos. Mehrere Mitglieder des Teams waren krankenhausreif geprügelt worden. Ein Motiv war nicht erkennbar, die Täter allerdings ordnete die Polizei dem linksradikalen Spektrum zu. Das machte eine Deutung des Überfalls noch schwieriger. Wird die „heute show“ doch im Allgemeinen ebenfalls eher in der linken politischen Ecke verortet. Oftmals scheinen die Beweggründe solcher Taten nur durch gedankliche Verrenkungen „erklärbar“. Beispielsweise, dass man Abdelkarim und seinen Leuten eine „Abreibung“ dafür verpassen wollte, weil sie sich als Feigenblatt für einen ansonsten der Regierung ergebenen Sender zur Verfügung stellen. Aber das sind nur Mutmaßungen, bislang ist die Tat nicht aufgeklärt.
Deutlich aber wird, dass einfache Erklärungsmuster immer weniger zielführend sind. Ein Umstand, der auch Sicherheitsverantwortliche vor neue Herausforderungen stellt. Auch bei den Demonstrationen gegen die Maßnahmen der Regierung zur Eindämmung der gegenwärtigen Pandemie ist das Spektrum der Teilnehmer mehr als bunt gemixt. Bezogen auf eine Veranstaltung in Stuttgart beschrieb das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ das bunte Volk der Protestierenden: „Es stehen nicht nur chronische Merkel-Hasser oder Impfgegner hier, sondern auch Menschen, die während der Krise ihren Job verloren haben. Alleinerziehende Mütter sind gekommen oder Gastronomen, die ihr Restaurant schließen mussten.“ Verlierer der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen, Menschen, die ihre Zukunft nur in düsteren Farben sehen oder Berufspessimisten bilden einen Bodensatz für die neue Protestbewegung. In der polnischen Hauptstadt wurden am 16. Mai bei mehr als 380 Teilnehmer des „Streiks der Unternehmer“ auf dem Schlossplatz in Warschau gegen die Beschränkungen der Regierung festgenommen. Der politische Frontverlauf hat längst die Konturen eingebüßt. Die oft diffus gehaltenen Ziele der Protestierenden lassen sich am besten an Sündenböcken festmachen.
Attacken auf Mobilfunkmasten
Die Methode der Sündenböcke aber braucht Feindbilder. Das lässt sich geradezu bilderbuchmäßig an den Tweeds des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump ablesen, der in der gegenwärtigen Krise zunächst China, dann seinen Amtsvorgänger Barak Obama und schließlich die Weltgesundheitsorganisation mit Schuldzuweisungen überhäufte. Alles mit der Absicht, vom eigenen Versagen abzulenken.
Auch wenn manchmal die Wut gewisser Zeitgenossen „nur“ an Sachen ausgelassen wird, zielt auch diese auf Menschen. Derzeit überzieht eine Welle von Brandstiftungen Europa, die sich – vorgeblich – gegen Sendemasten des neuen 5G-Mobilfunknetzes richten. Störende Fakten scheinen die Verschwörungspyromanen geflissentlich auszublenden. Allein 77 solcher Brandstiftungen zählte man bis Mitte Mai in Großbritannien. Hinzu kamen Angriffe auf 5G-Anlagen in Italien, Irland, Belgien und Zypern. Sogar die Kaukasusrepublik Nordossetien muss sich mit diesen Problemen herumschlagen. Während einer Pressekonferenz am 2. Mai sagte das Staatsoberhaupt Wjatscheslaw Bitarow, dass die Siedlung Nogir, mehrere Kilometer nördlich der Hauptstadt der Republik, Wladikawkas, ohne Mobilfunkdienst geblieben sei, nachdem ein Mobilfunkmast von Anwohnern, die die 5G-Technologie fürchteten, niedergebrannt worden war. Bei den Brandstiftungen in der Nähe der zypriotischen Hafenstadt Limassol vermuteten die Vertreter der dortigen Telekommunikationsgesellschaft CyTA, dass die Brandstifter davon ausgingen, man wolle die in der Bevölkerung höchst umstrittenen 5G-Anlagen während der Corona-Beschränkungen errichten und stiekum vollendete Tatsachen schaffen.
In Großbritannien warnte der Chef von Vodafone UK davor, dass Leben durch eine „gefährliche Lüge“ um 5G gefährdet seien, nachdem ein Mast in der Nähe des NHS Nightingale Coronavirus-Krankenhauses in Birmingham am Osterwochenende mutwillig zerstört worden war. In den Niederlanden haben die Behörden die Täter von Mastangriffen inzwischen als Hooligans charakterisiert, die sich an einer „Europameisterschaft der Mastverbrennungen“ beteiligen. Wenn sich auch die Aktionen in den verschiedenen Ländern gleichen, so scheinen doch die Beweggründe dafür unterschiedlich zu sein. Woraus speist sich diese Aversion?
Der Einfluss elektromagnetischer Strahlung
Die „Financial Times“ (FT) ließ Mitte April Hanna Linderstal, Geschäftsführerin des schwedischen Datenunternehmens Earhart Business Protection Agency, das Online-Desinformationen verfolgt, zu Wort kommen. Laut Linderstal erschien das erste Video, das das Coronavirus direkt mit 5G verband. Es wurde Anfang Januar online in Form eines Vortrags veröffentlicht, in dem der Einfluss elektromagnetischer Strahlung auf Pandemien diskutiert wurde. „Es war wirklich beängstigend, sich das anzusehen“, sagte Linderstal laut FT. Bald seien Dutzende von Videos aufgetaucht, die tote Vögel, tote Fische und Menschen zeigten, die auf der Straße ohnmächtig wurden - alles, so die Videos, das Ergebnis von 5G. Hanna Linderstal beobachtete die Resonanz von 35 der beliebtesten Videos, die im Januar erschienen, und stellte fest, dass sie innerhalb weniger Wochen 12,8 Millionen Mal aufgerufen worden waren. Damit wurde allerdings die Frage, worin der Nährboden für derartig krude Ideen besteht, nicht beantwortet. Eines scheint auf jeden Fall unübersehbar, es muss eine deutliche Erosion der bisherigen Werte stattgefunden haben. „Gerne sind wir zur Heldenverehrung bereit …, aber wenn der Held nicht umgehend unsere Erwartungen erfüllt, wenn er keinen Erfolg hat, lassen wir ihn bereitwillig fallen. In der modernen Gesellschaft, so scheint es, ist Autorität immer nur vorübergehend und auf Abruf möglich“, konstatierte die „WirtschaftsWoche“ schon vor einem Jahrzehnt.
Gestiegene Suizidraten vor allem bei Männern
Wirtschaftliche Verwerfungen können einen erheblichen Anstieg von Gewalt nach sich ziehen. Auch Suizide sind darunter zu subsumieren. Wirtschaftliche Krisenzeiten und Umbrüche überfordern viele Menschen. Beispiel: Die ostasiatische Wirtschaftskrise von 1997. Laut „ärzteblatt.de“ schätzte eine Studie, dass es damals „allein in Japan, Südkorea und Hongkong zu mehr als 10.000 zusätzlichen Suiziden kam.“ Und die ARD-Tagesschau meldete Mitte Mai: „US-Wissenschaftler warnen, dass in den nächsten Jahren bis zu 75.000 Amerikaner zusätzlich entweder durch Alkohol- oder Drogenmissbrauch oder durch Suizid ums Leben kommen werden.“ In der Europäischen Union zeigten sich solche Tendenzen vor allem in den neuen Mitgliedstaaten. Das waren „Bulgarien, Tschechien, Ungarn, die drei baltischen Länder, Malta, Polen, Rumänien und Slowenien, wo die Suizidrate bei den Männern um 13,3 Prozent stieg.“
Obwohl präzise Untersuchungen der Motive für gesteigerte Suizide fehlen, können sie als Zeichen dafür gewertet werden, dass das Vertrauen in die eigene wirtschaftliche Situation wie auch in die neu entstandenen gesellschaftlichen Verhältnisse zutiefst erschüttert war. Darin ist eine Ursache zu sehen, warum so viele Menschen heutzutage falschen Propheten – um nicht zu sagen Rattenfängern – hinterherlaufen. Klassische politische Zuordnungen scheinen dabei immer weniger eine Rolle zu spielen.
Aber auch ohne direkte „geistige“ Führer gibt es in der Gesellschaft erschreckende Entwicklungen, die die Sicherheitsverantwortlichen aller Ebenen zutiefst beunruhigen müssen und Antworten erfordern. Der Vorstandsvorsitzende der Otto Group in Hamburg, Alexander Birken, hatte schon vor einiger Zeit seiner Besorgnis Ausdruck verliehen und deutlich gemacht, dass deutsche Wirtschaftskapitäne über die gegenwärtigen Entwicklungen beunruhigt sind. „Die schlimmen Gewaltexzesse in Chemnitz“, so Birken in der „WirtschaftsWoche“, hätten ihn „sehr betroffen gemacht und Erinnerungen an die Ausschreitungen während des G20-Gipfels hier bei uns in Hamburg wach werden lassen. Der pure Pöbel, der blanke Hass und die organisierte Zerstörungskraft radikaler Stoßtrupps – diesmal von rechts – hat Schockwellen in die Welt gesandt. Die noch schweigende Mehrheit der Deutschen sollte klare Kante gegen Populismus, Fremdenfeindlichkeit und Zerstörungswut zeigen.“
Solidarität scheint in Hass und Angst überzugehen
Der Aufruf scheint in seiner Konsequenz verhallt, denn inzwischen sind immer mehr Menschen, deren Wertevorstellungen offensichtlich völlig aus dem Ruder zu laufen scheinen, zu Attacken gegen Menschen bereit. An Absurdität kaum zu überbieten: Es trifft die wichtigsten Helfer, die von der Mehrheit der Menschen als Helden gefeiert werden, wie Feuerwehrleute, medizinische Fachkräfte und Rettungssanitäter sowie Amtspersonen, bei denen an erster Stelle die Polizeibeamten stehen.
Das Spektrum derer, die in der gegenwärtigen Krise offensichtlich jeden normalen Kompass verloren haben, ist weit gefächert. Während die einen die behördlich angeordneten Einschränkungen anzweifeln und dagegen auch auf die Straße gehen, sind andere in ihrer Ängstlichkeit nicht weniger unheimlich. Je länger, so schrieb die „ÄrzteZeitung“ in der Hochphase des Lockdowns, „die strikten Ausgangssperren dauern, ohne dass die Zahlen von Infizierten und Toten sonderlich abnehmen, desto mehr scheint die allgemeine Solidarität in Hass und Angst überzugehen, vom Gesundheitspersonal angesteckt zu werden.“ Das führt zum Beispiel in Spanien dazu – wie das Blatt vermerkt –, dass dort anscheinend immer mehr Nachbarn Angst bekommen, „Ärzte und Pfleger könnten das Virus nun mit in die Hausgemeinschaft schleppen.“ Die Mediziner registrierten Sachbeschädigungen und verbale Attacken. Die Helfer brauchten Hilfe. Deshalb stellte „der Verbund Ärzten und Pflegern in Madrid fast 200 Wohnungen gratis zur Verfügung.“ Das Zurückfahren der Beschränkungen hat hierzulande jedoch nicht zu einer Entspannung der Situation geführt, sondern vielmehr dazu, dass die Proteste an Fahrt aufgenommen haben. Gleichzeitig sinken die Popularitätswerte der Politiker rapide. Ein opportunistisches Dem-Volk-aufs-Maul-schauen führt kaum dazu, den Konflikt zu entschärfen. Schon jetzt kann gesagt werden: Wenn nach dem Ende der Pandemie die Rechnungen verteilt werden, werden die Proteste noch einmal ganz erheblich an Fahrt gewinnen.
Autor: Peter Niggl