Crowd Simulation – damit‘s im Ernstfall läuft.
Crowd Simulationen helfen, Sicherheitskonzepte und Räumungskonzepte von Gebäuden, Veranstaltungen und Arbeitsstätten auf Herz und Nieren zu prüfen
Lesezeit: 5 Min.
19.06.2020
Corona hat es allen gezeigt: selbst der beste Notfallplan ist nur dann gut, wenn die Abläufe sitzen und jeder weiß, was zu tun ist. Auch in Unternehmen ist das so: Der Arbeitsschutz fordert Räumungsübungen und Sicherheitskonzepte, ob sie aber im Ernstfall funktionieren, ist schwer vorherzusehen.
Genau hier können Crowd Simulationen helfen: Mithilfe einer Software kann das Bewegungsverhalten von Menschen durch den Raum nachempfunden werden und so beispielsweise neuralgische Punkte, Räumungszeiten oder Stauzeiten ermittelt werden. Sie unterstützen also dabei, Sicherheitskonzepte zu überprüfen und Räumungskonzepte von Gebäuden, Veranstaltungen und Arbeitsstätten auf Herz und Nieren zu prüfen, damit im Ernstfall nichts schiefläuft. Die darunterliegenden Algorithmen basieren auf aktuellsten wissenschaftlichen Erkenntnissen, die unter anderem in Feldversuchen und kontrollierten Experimenten gesammelt wurden. So bilden die Modelle typische Phänomene ab, wie sie in Menschenmengen beobachtbar sind. Bahnenbildung ist eines davon: Wir alle laufen innerhalb von dichten Menschenmengen möglichst denjenigen hinterher, die in dieselbe Richtung wie wir selbst laufen. Da dies fast alle tun, bilden sich gewisse Bahnen aus, die sichtbar werden, wenn man von oben auf die Menschenmenge schaut.
Doch wie und wann bilden sich solche Bahnen im Raum? Da die Dynamik von Menschenmengen oftmals zu komplex ist, um sie auf dem Reißbrett vollumfänglich zu durchdringen, können Simulationen genau hier Abhilfe schaffen. Sie decken räumlich-zeitliche Zusammenhänge auf und tragen zu einem besseren Verständnis für die Situation bei. Es können Was-Wäre-Wenn Szenarien vorab durchgespielt werden, um Auswirkungen von Maßnahmen zu verstehen. Sie ergänzen die statischen Normen und Verordnungen, da sie die Dynamik und Wechselwirkungen mit in Betracht ziehen.
Wer im Vorfeld getestet hat, wo sich Engstellen entwickeln werden, und welche Maßnahmen welche Konsequenzen nach sich ziehen, kann im Ernstfall schneller und fundierter Entscheidungen treffen. Und das rettet Menschenleben. Zudem helfen Simulationen bei der Kommunikation: die visuelle Aufbereitung der Ergebnisse in Form von Videos sind verständlich und können auch von fachfremden Personen leicht und zügig nachvollzogen werden. Dies kürzt oftmals leidige Diskussionen ab und führt schnellere Entscheidungen unter den Beteiligten herbei.
Für die Erstellung einer Simulation wird die Geometrie der zu betrachtenden Räumlichkeiten, die bauliche Ausgestaltung sowie eine Schätzung der Belegungszahlen und dessen Verteilung im Gebäude benötigt. Fügt man diese Parameter in einer Simulation zusammen, lässt sich erkennen wie die gesamte zur Verfügung stehende Fläche genutzt wird, wo die Hauptlaufwege und stark frequentierten Routen sind und welche Bereiche zu den sog. passiven Flächen zählen, also Bereiche, die kaum genutzt werden. Räumungszeiten können belastbar ermittelt werden, Engstellen und kritische Punkte im Fluchtweg identifiziert und Staus analysiert und visualisiert werden. Und dies macht den großen Vorteil gegenüber herkömmlichen Verfahren aus: da man die Bewegung der Menschen im Raum über die Zeit hinweg betrachtet, werden das Zusammenspiel dieser und die gegenseitigen Auswirkungen sichtbar.
Räumungskonzepte mithilfe von Simulatoren optimieren
Das zeigen auch die Ergebnisse aus verschiedenen Simulationsprojekten. So konnte bspw. für das Münchner Oktoberfest das Räumungskonzept mithilfe von Simulationen optimiert werden. Auch im Schloss Neuschwanstein, das ursprünglich von König Ludwig II als Rückzugsort gebaut wurde, konnte mithilfe von Simulationen nachgewiesen werden, dass die täglich 6.000 Besucher im Ernstfall sicher herauskommen, auch wenn die Fluchtwege von der Mindestbreite abweichen, die im Baurecht gefordert ist. Auch in Arbeitsstätten können Simulationen nachweisen, dass durch geschickte zeitlich versetzte Räumung einzelner Ebenen die Fluchtwegstreppen optimal ausgelastet und Fluchttreppenräume so dimensioniert werden können, dass sie auch wirtschaftlich bleiben. Gleiches gilt für infrastrukturelle Bauwerke wie Flughäfen oder Bahnhöfe: Durch die komplexe Bauweise und oftmals unterschiedliche Ebenen sowie viele ortsfremde Personen müssen Fluchtwege eine klare Führung aufweisen. Nur wer die neuralgischen Punkte im Gebäude kennt, kann diese mit Personal besetzen, um so die Personen zügig aus dem Gebäude zu leiten.
Simulationen können sowohl in der Planungsphase von Gebäuden als auch während des Betriebs durchgeführt werden, um einen echten Mehrwert zu leisten und Kosten zu sparen. Kosten, die einerseits durch zu großzügige Planung, andererseits durch Planungsfehler entstehen, die dann im Betrieb meist teuer korrigiert werden müssen. Die Simulationsergebnisse werden im Normalfall in Form von Gutachten dokumentiert. Experten können nach Schulung Simulationen selbst durchführen und so innerbetriebliche Optimierungen anstoßen.
Ein validiertes und vielseitiges Werkzeug
Durch den wissenschaftlichen Hintergrund ist Crowd Simulation ausreichend validiert und wird mit der DIN-Norm 18009-2 zur anerkannten Regel der Technik erhoben. Diese Norm behandelt das Thema Räumungssimulation und standardisiert die Vorgehensweise sowie die Modelle zur Simulation. Die Rahmennorm 18009 umfasst das Thema Brandschutzingenieurwesen.
Durch Covid-19 kommt solchen Simulationen noch weit mehr Bedeutung zu: Ob das Social Distancing in Büros, auf dem Weg zur Arbeit in öffentlichen Verkehrsmitteln oder bei zukünftigen Veranstaltungen eingehalten werden kann, lässt sich objektiv und anschaulich mit Simulationen testen. So können die Parameter so justiert werden, dass die Personen soweit möglich 1,50 bis 2 m Abstand halten und nur in Engstellen diesen Abstand kurzfristig unterschreiten. Damit lassen sich wichtige Informationen ermitteln, die für Hygienekonzepte relevant werden: wie müssen Zugänge und Einlässe organisiert werden, wann ist die Kapazitätsgrenze von Flächen erreicht und wie können die Abläufe bestmöglich an die neue Situation angepasst werden, damit das Abstandhalten umsetzbar ist.
Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur BMVI hat dem Unternehmen im Rahmen des Förderprogramms mFUND in einem Eilverfahren das zweimonatige Forschungsprojekt DISTANSIM bewilligt, das in Zusammenarbeit mit der Technischen Universität München im Mai und Juni 2020 durchführt wird. Ziel des Projekts ist es, das Simulationsmodell um Social Distancing auf Basis von wissenschaftlichen Studien zu erweitern und so ein wichtiges Werkzeug auf dem Weg zurück in die Normalität zu schaffen.
Autorin: Frau Dr. Angelika Kneidl
Bildquelle: accu:rate GmbH