Rufmord – von der Flatulenz zum Orkan

Was bisweilen als Flatulenz beginnt, endet oftmals als Shitstorm, als Orkan. Imageschädigung wird durch Social Media noch brisanter.

Lesezeit: 11 Min.

19.03.2024

Rufmord – was bisweilen als Flatulenz beginnt, endet oftmals als Shitstorm, als Orkan. Mit diesem Sprachbild lässt sich wohl am treffendsten beschreiben, was am 4. Oktober 2021 in der Gerberstraße in der Leipziger City seinen Lauf nahm.

Dort, vor dem Hotel „The Westin“, hatte sich der Musiker Gil Ofarim auf der Bordsteinkante sitzend, in einem rührend theatralischen Video darüber beklagt, dass er wegen seines Davidsterns an einer Halskette von einem Mitarbeiter an der Rezeption zurückgewiesen worden sei und nicht einchecken durfte. Der Vorwurf gegen den Hotel-Mitarbeiter und zugleich gegen die ganze Hotel-Kette, die weltweit über etwa 230 Nobelherbergen verfügt, traf einen der sensibelsten Punkte gegenwärtiger politischer Auseinandersetzung: den Antisemitismus. Welche Laus Herrn Ofarim tatsächlich über die Leber gelaufen war und ihn zu den Anwürfen bewogen hat, ist bis heute nicht geklärt. Wollte er auf den Zug des Anti-Antisemitismus aufspringen und ist dabei krachend abgestürzt?

Blinde, fehlgeleitete Solidarität

Auf jeden Fall ist Ofarim mit seinem Instagram-Video – welches schon nach kurzer Zeit über vier Millionen Aufrufe verzeichnete – gelungen, was ihm in seiner Künstlerkarriere offensichtlich in dieser Dimension bis dato verwehrt geblieben war: Er hatte ein Millionenpublikum erreicht und wohl größtenteils auch für sich – wenn auch wohl nur für eine kurze Zeit – einnehmen können. Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Meinungsmacher wie Politiker, waren ihm auf den Leim gekrochen.

Zum Beispiel schrieb postwendend der unter anderem für öffentlich-rechtliche TV-Anstalten tätige Journalist Olaf Sundermeyer: „Bisher war ich zwei Mal zu Gast im #WestinLeipzig. Ein drittes Mal wird es nicht vorkommen.“ Mehr als zwei Jahre dauerte es, bis Sundermeyer einräumen musste: „Dieser Tweet war ein Fehler. Für die Aussage entschuldige ich mich. Ich habe mich von Gil Ofarim täuschen lassen, mich von meiner Empörung hinreißen lassen. Das aber hätte nicht passieren dürfen. Es tut mir leid.“

Sundermeyer ist kein Einzelfall und deshalb bezeichnend für die Affäre. Auch die stellvertretenden Bundesvorsitzenden der CDU, Karin Prien, benötigte keine Denkpause, reihte sich in den Chor der Betroffenen ein und twitterte am 5. Oktober 2021: „Unfassbar, dass so etwas in Deutschland geschieht und nicht unverzüglich zur Entlassung der entsprechenden Mitarbeiter führt.“ Ihr Mea culpa für die aktive Beihilfe zum Rufmord ließ zwei Jahre auf sich warten.

Und sogar der damalige Außenminister Heiko Maas (SPD) äußerte sich „fassungslos“ über den Vorfall. „Leipzig ist kein Einzelfall“, bedauerte der Minister und forderte die deutsche Gesellschaft auf, „die Reihen zu schließen“, um Antisemitismus zu bekämpfen.

Eine uralte Bösartigkeit bleibt ewig aktuell

Schon bei Moses heißt es im achten Gebot: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“ Man geht davon aus, dass die Zehn Gebote vor rund drei Jahrtausenden verfasst wurden. Den Ruf anderer in Misskredit zu ziehen, scheint eine unausrottbare Schattenseite des menschlichen Charakters zu sein. Schlimmste Verbrechen wurden auf diese Weise gerechtfertigt.

Rufmord kennt viele Facetten. Der Bogen reicht vom „Lästern“ am Biertisch bis zur gezielten und kalkulierten Zerstörung der Reputation eines oder einer Gruppe von Menschen. Den Straftatbestand des „Rufmordes“ gibt es im Strafgesetzbuch allerdings nicht. Bei einem Rufmord handelt es sich juristisch um eine Verleumdung oder eine üble Nachrede. Die Tatbestände sind im Wesentlichen in den Paragraphen 186 und 187 des Strafgesetzbuches geregelt.

Einmal Opfer eines Rufmordes geworden, kann es den oder die Betroffenen kaum beruhigen, dass Justitia schützend ihre Hände über den Geschmähten hält. Die Auswirkungen stellen sich schneller ein, als ein Gericht für die Wiederherstellung des Rechtsfriedens sorgen kann.

Der Fall Ofarim mag dafür beredtes Beispiel sein. Der Direktor des Hotels „Westin“, Andreas Hachmeister, stellte sich lange bevor das Ofarimsche Lügengebäude zusammengekracht war, den Fragen der Reporterin des TV-Magazins ZAPP. Er schilderte die unmittelbaren Folgen für sein Unternehmen durch Ofarims Anschuldigungen in den Sozialen Medien: „Das war kein Shitstorm, das war ein Orkan.“ Weltweiten Mediennachfragen binnen Stunden gerecht zu werden, darauf sei man nicht vorbereitet gewesen, so Hachmeister. Tausende Hassanrufe seien im Hotel gelandet, so der Direktor. Abgesehen von der mentalen Belastung für die Beschäftigten, bindet dies in einem Gewerbe, welches in höchstem Maße auf Kommunikation angewiesen ist, erhebliche Kapazitäten. Und wird zu einem nicht geringen Kostenfaktor. Ganz abgesehen von den Stornierungen und den – schwer präzise einem Umsatzausfall zuzurechnenden – entgangenen Buchungen.

Man schlägt den Sack und meint den Esel

An einem Punkt zeigt sich Perfidie der Ofarimschen Schmierenkomödie. Obwohl es der Mitarbeiter W. sein soll, der die Aufforderung ausgesprochen hat, „den Stern“ wegzupacken, wurde das gesamte Hotel-Unternehmen in Haftung genommen, wie der Ankündigung Sundermeyers zu entnehmen ist. Ob Ofarim zu so kühnen Gedankenkonstruktionen in der Lage ist, den Sack zu schlagen und dabei den Esel zu meinen, kann bezweifelt werden. Der Verlauf der Skandalgeschichte spricht eher dagegen. Als allgemeines Instrument eines gezielten Rufmordes ist dies nicht unbekannt.

Relativ früh, im April 2022, hat die linksalternative Tageszeitung (taz) mit Ofarim abgerechnet. „Die künstlerische Vita des Musikers legt leider nahe, dass es sich bei Ofarim um einen Künstler handelt, der um eine echte Karriere ringt und der offenbar aufgrund seines professionellen Ungenügens auch nicht davor zurückschreckte, sich aufmerksamkeitsökonomisch einen Vorteil zu verschaffen, also Antisemitismus zu behaupten, ohne dass es sich um einen solchen Fall handelt.“ Auch wenn die Beschäftigten des Westin Leipzig inzwischen juristisch völlig rehabilitiert sind, so muss doch konstatiert werden, dass der gerichtliche „Freispruch“ nicht das Medienecho fand, wie die konstruierten Anschuldigungen Ofarims.

Aufwind durch die sozialen Medien

Wie schon erwähnt, hat der Rufmord seit grauer Vorzeit seinen Platz im mitmenschlichen Gegeneinander. In den letzten Jahrzehnten ist er jedoch „bereichert“ worden. Im Juni 2011 konstatierte der „Deutschlandfunk“: „Mit den sozialen Medien haben auch die sozialen Konflikte ihren Siegeszug im Internet angetreten. Mobbing, Rufmord, üble Nachrede betreffen Firmen und Unternehmen, aber auch Privatpersonen und vor allem Jugendliche.“

Wenige Monate später bekamen diese Worte ihre dramatische Bestätigung. Im ostfriesischen Emden war nach dem Mord an einer Elfjährigen Ende März 2012 ein 17 Jahre alter Berufsschüler als Tatverdächtiger festgenommen worden. Der Name des Beschuldigten wurde an die Öffentlichkeit durchgestochen. Es folgten in den Sozialen Netzwerken Aufrufe zur Lynchjustiz. Dutzende Menschen belagerten das Polizeigebäude, in dem der Jugendliche festgehalten wurde. Drei Tage nach dessen Festnahme mussten Polizei und Staatsanwaltschaft mitteilen: „Aufgrund neuer Ermittlungsergebnisse steht fest, dass er als Täter auszuschließen ist.“ Der wirkliche, geständige Täter war gefasst. Dem 17-Jährigen wurden pro Tag in Haft 25 Euro Entschädigung zugesprochen. Für das, was er und seine nächsten Angehörigen in den Tagen durchlitten, kennt der Gesetzgeber keinen Schadensersatz.

Nicht alles ist unvorhersehbar

„Es dauert 20 Jahre, um einen guten Ruf aufzubauen, und nur fünf Minuten, um ihn zu ruinieren“, sagte einmal der legendäre US-amerikanische Finanzmagnat Warren Buffet. Und ein Unternehmen hat viele Angriffsflächen. Produkte und Dienste können ebenso von Leumund-Attacken betroffen sein, wie Repräsentanten des Unternehmens oder geschäftliche Verbandelungen. Die Angriffe können gezielt auf ein Unternehmen ausgerichtet sein oder – wie wohl im Fall Ofarim – dieses ganz zufällig und willkürlich treffen. Vorhersehbar sind Rufmord-Attacken in den wenigsten Fällen.

Nicht jeden trifft eine Kampagne wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Gut justierte Antennen hätten so manchen Shitstorm wohl detektiert, als er noch ein laues Lüftchen war. Das trifft wohl auch auf den führenden Lebensmittelkonzern Nestlé zu. Im Frühjahr 2010 schrieb das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ unter der Überschrift „Angriff aus dem Social Web“: „Eine eigene Facebook-Fanseite gehört bei Markenartiklern inzwischen zum Standardrepertoire. Doch das Marketinginstrument birgt auch Gefahren: Die dort versammelte Anhängerschaft kann sich plötzlich gegen einen wenden – wie im Falle von Nestlé.“ Dem Vorausgegangen war, dass die Umweltorganisation Greenpeace dem Schweizer Konzern vorwarf, durch die Verwendung von Palmöl in seinen Produkten, vor allem den „Schokoriegel mit Waffelfüllung“ KitKat (Werbeslogan „Have a break – Have a Kitkat“) die Zerstörung von Wäldern zu befördern und den Lebensraum bedrohter Orang-Utans zu zerstören. Für seine Kampagne warb Greenpeace in Anlehnung an die Werbung mit dem Slogan „Give the orang-utan a break“. Das Thema habe sich, wie „Der Spiegel“ schreibt, „zunächst fernab klassischer journalistischer Publikationen entwickelt.“ Erst nach einigen Tagen seien „etwa ‚Sky News‘ oder ‚The Times‘“ aufgesprungen.

Nestlé und die Orang-Utans

In einer Dissertation, die kurze Zeit nach diesem Konflikt an der Humboldt-Universität zu Berlin eingereicht wurde, problematisierte die Doktorandin die Fehler von Nestlé. In dem kritisierten Fall der Umweltzerstörung habe Palmöl eine entscheidende Rolle gespielt, „das auf abgeholzten Regenwaldflächen kultiviert wird“, heißt es in der Doktorarbeit. „Greenpeace entdeckte diese Lieferbeziehung und initiierte eine Werbekampagne, die sich auf den Verlust des Lebensraums des Orang-Utans fokussiert. Das fatale Fehlverhalten des Managements (Unterlassungsklage) hat zu einer schnelleren Verbreitung via Internet beigetragen, so dass ein erheblicher Imageverlust mit Umsatzeinbrüchen verzeichnet wurde. Dieser Vorfall hätte verhindert werden können, wenn die Verantwortlichen von Nestlé die Problematik ‚Palmöl‘ frühzeitig als Issue erkannt hätten. Dies wäre bei Verfolgung der Aktivitäten der Umweltverbände möglich gewesen.“ Der „weltgrößte Lebensmittelkonzern tappt in eine gewaltige PR-Falle“, meinte auch das „Handelsblatt“ und konstatierte: „Das Web 2.0 verleiht Nichtregierungsorganisationen ganz neue Möglichkeiten. Unternehmen stellt es vor eine enorme Herausforderung und kann sie in große Bedrängnis bringen.“

So mancher Imageschaden könnte bei ausreichender Selbstreflexion verhindert oder zumindest abgemildert werden. „Nach Kritik der Umweltschutzorganisation Greenpeace hat der Lebensmittelkonzern Nestlé seine Zusammenarbeit mit dem umstrittenen indonesischen Palmöl-Produzenten Sinar Mas aufgekündigt. Nestlé teilte mit, es habe Sinar Mas durch einen anderen Palmöl-Hersteller ersetzt“, berichtete „Die Zeit“ über das faktische Einknicken des Konzerns.

Googles Autocomplete-Funktion als Motor für Rufmord

Dass sogar der Internetriese Google Rufmord im Netz befeuern konnte, wurde 2013 vom Bundesgerichthof festgestellt, das dem Suchmaschinen-Monopolisten auferlegte, dies zu unterbinden. War eine Suche nach einer Person bei Google mit weiteren Begriffen wie „Betrug“, „Scientology“ oder „Prostitution“ angezeigt worden, so hieß es, könne das diese Person vernichten. Geschäftlich, beruflich und privat. Basieren diese Wortkombinationen auf einer unwahren Unterstellung, müsse es dagegen einen wirksamen Schutz geben. Ausschlaggebend war unter anderem eine Auseinandersetzung von Bettina Wulff mit Google. Seit 2012 gab es, wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ 2015 berichtete, „Reibereien zwischen Bettina Wulff und Google. Wenn man bislang ihren Namen in der Suchmaschine eingab, wurde er durch Googles Autocomplete-Funktion ergänzt. Der berühmteste Vorschlag war ‚Bettina Wulff Escort‘. Diese und noch weitere Ergänzungen rotlichtiger Natur sorgten für Gerüchte um die Vergangenheit der Ehefrau des zehnten Bundespräsidenten Christian Wulff. Es handelte sich insgesamt um 43 einschlägige Namenskombinationen, gegen die Bettina Wulff seit über zwei Jahren vorgeht.“ Am 15. Januar 2015, einen Tag vor der Verhandlung am Landgericht Hamburg, erklärten Wulffs juristische Vertreter, dass sich die Parteien außergerichtlich geeinigt hätten. Die „persönlichkeitsverletzenden Wortkombinationen“ wurden entfernt und tauchen auf dem Gebiet der Bundesrepublik nicht mehr auf, so die FAZ.

„Mehr als eine halbe Million Entscheider und Führungskräfte in Deutschland sind Schätzungen zufolge von unfairen Attacken gegen sich oder ihr Unternehmen betroffen“, heißt es in einer Presseerklärung der in Oberursel am Taunus ansässigen Fairness-Stiftung. Die Zahl ist allerdings fast ein Vierteljahrhundert alt. Neueres Datenmaterial gibt es nicht. Es ist jedoch davon auszugehen, dass sich – auch aufgrund der gesteigerten elektronischen Möglichkeiten, die Anzahl der Betroffenen in den letzten Jahren nicht verringert hat. Wer das juristisch nicht definierte Suchwort bei Google eingibt, wird von einem Angebot an Anwaltskanzleien geradezu überschwemmt, die rufgemordeten Personen ihre anbieten.

Rufmord als Vorwand für Slapp

Aber es gibt auch Unternehmen, die versuchen, den Spieß umzudrehen und ihre Kritiker mit dem Vorwurf des Rufmordes juristisch zum Schweigen zu bringen. Ein Problem, das inzwischen sogar auf höchster EU-Ebene angekommen ist. Das öffentlich-rechtliche Belgische Rundfunk- und Fernsehzentrum der Deutschsprachigen Gemeinschaft (BRF) sieht in diesem „strategischen Prozessieren“ sogar eine Bedrohung für den Rechtsstaat. Im April 2022 stellte man dort fest: „Bürger, Initiativen, Umweltschützer und Journalisten – sie werden zunehmend mit einem neuen Phänomen konfrontiert: Unternehmen, gegen die sie sich kritisch äußern, drohen mit Klagen wegen Rufmord.“ Der belgische Sender präzisiert: „Immer häufiger versuchen Unternehmen, Konzerne oder auch einzelne Geschäftsleute Kritiker einzuschüchtern, indem sie ihnen mit Prozessen drohen, bei denen es um Summen geht, die für die Beklagten eine existentielle Bedrohung darstellen. Dafür gibt es mittlerweile sogar einen eigenen Begriff: Slapp.“ Das Wort ist ein Akronym für Strategic lawsuit against public participation. Das bedeutet übersetzt so viel wie strategisches Klagen gegen öffentliche Beteiligung, erklärt Dirk Voorhoof, emeritierter Professor der Uni Gent und einer der stärksten Gegner dieser Praxis in Belgien. Das habe auch die EU-Kommission erkannt und die Mitgliedsstaaten aufgefordert, diese Einschüchterungspraxis entweder zu stoppen oder zumindest zu erschweren, heißt es beim belgischen Sender. „Die Gerichte könnten kurzen Prozess machen. Klagen dieser Art sollten möglichst rasch als unbegründet entlarvt und abgewiesen werden, denn häufig sind sie vollkommen haltlos und die Forderungen überzogen.“

Wie und was auch immer, Rufmord bleibt auch ohne exakte juristische Konturen ein Kampffeld, das keiner, der in der öffentlichen Wahrnehmung steht, aus dem Blickfeld verlieren sollte. Es kann jeden kalt erwischen; allerdings auch die Täter – siehe Ofarim.

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Über den Autor: Peter Niggl

Peter Niggl, Journalist und Chefredakteur der Fachzeitschrift Security Insight