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Lieferkette mit brüchigen Gliedern

05.09.2024

Über der deutschen Wirtschaft haben sich dunkle Wolken zusammengezogen, eine davon heißt Lieferengpass.

Die Stabilisierung der Wirtschaft erfordert eine komplexe Antwort Foto: Pixabay
Die Stabilisierung der Wirtschaft erfordert eine komplexe Antwort Foto: Pixabay

Kurzarbeit trotz gut gefüllter Auftragsbücher, dieses Paradoxon kann man in jüngster Zeit immer wieder hören respektive lesen. Über der deutschen Wirtschaft haben sich dunkle Wolken zusammengezogen, eine davon heißt Lieferengpass. In diesem allgemeinen Begriff bündeln sich quasi die Auswirkungen der heute bestehenden Einzelprobleme, wie internationale Konflikte, marode und unsichere Infrastrukturen, Fachkräftemangel, Inflation und ähnliches. Für kleine und mittelständische Unternehmen kann dieses Belastungspaket existenzbedrohende Folgen haben.

Im Februar dieses Jahres stellte die ARD-Tagesschau die Frage, ob es eine Insolvenzwelle gebe. Bei der Antwort darauf blieb sie leider vage, musste aber die fragile Gesamtsituation einräumen: „Experten wie Reint Gropp, Leiter des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle, sind mit dem Begriff der Insolvenzwelle vorsichtig – trotz der aktuell hohen Zahl an Unternehmensinsolvenzen: ‚Wir rechnen nicht damit, dass die Insolvenzzahlen jetzt wieder fallen.‘ Aber ob das jetzt eine Welle ist, könne der Fachmann nicht sagen.“

Es beginnt bei der Beschaffung von Materialien

Die Störungen von Lieferketten können, wie das Portal „statista.de“ resümiert, „bereits bei der Beschaffung von Materialien beginnen, die für die Herstellung eines Produktes nötig sind.“ Aber, so heißt es in der im Juni veröffentlichten Analyse weiter, „auch Fehler bei der tatsächlichen Produktion oder Verzögerungen und Ausfälle beim Transport von Material zur Produktionsstätte oder vom fertigen Produkt zum Händler sind mögliche Ursachen für Lieferengpässe.“ In diesem Zusammenhang wird unisono beklagt, dass eine extrem hohe Abhängigkeit von Indien und China im Bereich der Medikamentenproduktion bestehe.

Bezieht man die fragile Situation am Suezkanal – auf den noch einzugehen sein wird – mit in Betracht, kann dies schwerwiegende Folgen haben. Geradezu absurd wirkt es, wenn in diesem Moment eine Meldung die Runde macht, dass zum Jahresende 2025 das Werk für das Schmerzmittel Novalgin des französischen Pharmakonzern Euroapi im Industriepark in Frankfurt-Höchst die Produktion einstellen wird. Die Wiener Tageszeitung „Der Standard“ konstatiert hierzu nüchtern: „Somit rutscht Europa bei diesem Wirkstoff in die völlige Abhängigkeit von China, denn nur noch dort wird das Mittel weiter hergestellt. Das birgt bereits bekannte Risiken. Verschärfen sich Handelskonflikte, könnte die Lieferung begrenzt oder eingestellt werden, oder chinesische Hersteller erhöhen massiv die Preise.“ Nach den Einschränkungen während der Corona-Pandemie würden „aktuell auch politische Konflikte, wie der Krieg zwischen Russland und der Ukraine, zu Lieferengpässen und Preisanstiegen“ führen. Die hieraus resultierende stark angestiegene Inflationsrate sorge zudem „für Sparmaßnahmen innerhalb der Produktion und trägt somit zum Teil zu langen Lieferzeiten bei.“

Marode Transportwege als Problem

„Die Infrastruktur in Deutschland verfällt immer weiter, die Sanierung geht nicht schnell genug voran“, schrieb der Berliner „Tagesspiegel“ Anfang Mai. Dies ging aus einer Antwort des Bundesverkehrsministeriums auf eine Anfrage des Bündnisses Sarah Wagenknecht (BSW) hervor. Wie dieser Antwort zu entnehmen war, „wurden bei der jüngsten Zustandserfassung 2021/22 insgesamt 7112 Kilometer Autobahnfahrstreifen als sanierungsbedürftig eingestuft. Bei der letzten Erfassung 2017/18 waren es noch 5797 Kilometer.“ Ähnlich sieht es beim Schienennetz aus. Allein zwischen 2021 und 2023 erhöhte sich die Zahl der Bahnbrücken, welche sanierungsbedürftig sind von 1089 auf 1160. Die dringend sanierungsbedürftigen Bahnstrecken belaufen sich trotz Sanierungsarbeiten mittlerweile auf 17.636 Kilometer. Dass alle diese benannten Mängel Auswirkungen auf die Lieferkette haben, versteht sich nahezu von selbst.

Die Bahn hat – reichlich spät – am 27. Dezember 2023 mit der Schaffung der DB InfraGO AG reagiert. Ziel der neuen Tochter-Gesellschaft sei es, so die Deutsche Bahn AG, „die Grundlage zu schaffen für mehr Verkehr auf der Schiene und das Erreichen der verkehrspolitischen Ziele: eine Verdopplung der Personenverkehrsleistung, den Ausbau des Marktanteils im Schienengüterverkehr von 19 auf 25 % und die Umsetzung des Deutschlandtakts – für die Menschen, die Wirtschaft und die Umwelt.“ Konkret wird die DB InfraGO AG nur in einem Punkt. Bis 2030 sollen mehr als 4000 hoch belastete Streckenkilometer von Grund auf – gebündelt mit 40 Hochleistungskorridoren – saniert werden. Den Pferdefuß bei all diesen Ankündigung brachte am 13. Februar 2024 SAT.1 Bayern auf den Punkt: „Schon wieder Zugausfälle – die Deutsche Bahn kämpft seit Monaten mit Personal- und Lieferengpässen. Betroffen sind in erster Linie die Regionalbahnen. Fahrgäste können auf Go Ahead-Züge ausweichen oder den Schienenersatzverkehr in Anspruch nehmen.“ So fallen offensichtlich Maßnahmen zur Beseitigung von Lieferengpässen den Lieferengpässen zum Opfer.

Manche Meldungen zu diesem Problemkreis lesen sich wie eine Posse aus Schilda. So schrieb das „Handelsblatt“ im Januar: „Wochenlang stehen nagelneue Straßenbahnen auf einem Betriebsgelände der Rheinbahn in Düsseldorf. Denn ein entscheidendes Bauteil fehlt: Die Motoren für die Scheibenwischer können nicht geliefert werden. … Da stehen dann Bahnen für 3,5 Millionen, die wegen fehlender Komponenten im Wert von ein paar Hundert Euro nicht fahren können“, sagt Michael Richarz von der Rheinbahn der Zeitung.

Das Blatt konstatiert: „Die Lieferzeiten für neue Bahnen betragen derzeit bis zu 38 Monate, heißt es von mehreren Verkehrsverbänden. Die Branche drängt die Industrie deshalb auf schnellere Lieferungen. Doch die Hersteller führen gleich mehrere Gründe für die langen Wartezeiten an.“ Es sind dann die gleichen die überall genannt werden. Im Volksmund heißt dies: Da beißt sich die Katze in den Schwanz.

Gesundheitswesen international gebeutelt

Dass die Lieferengpässe im Gesundheitswesen nicht nur auf Deutschland beschränkt sind, machen Meldungen von unserem westlichen Nachbar deutlich. Im vergangenen Jahr verzeichnete in Frankreich die Nationale Agentur für die Sicherheit von Arzneimitteln und Gesundheitsprodukten (ANSM) einen deutlichen Anstieg der Meldungen über Fehlbestände und Risiken von Fehlbeständen. Insgesamt wurden 4.925 Meldungen erfasst, im Vergleich zu 3.761 im Jahr 2022.

„Alle Medikamentenklassen sind von Lagerengpässen oder der Gefahr von Engpässen betroffen. Unter den Medikamenten von großem therapeutischem Interesse sind vor allem Herz-Kreislauf-Medikamente, Medikamente für das Nervensystem, Antiinfektiva und Krebsmedikamente vertreten „, präzisiert die ANSM. Darüber hinaus betont die Agentur den „multifaktoriellen Ursprung „dieser Brüche: Schwierigkeiten bei der Herstellung von Rohstoffen oder Fertigprodukten, Qualitätsmängel bei Arzneimitteln, unzureichende Produktionskapazität, Fragmentierung der Herstellungsstufen usw.

Fachleute bemängeln fehlende Investitionen

Dennoch kritisieren Fachleute, dass ein wesentlicher Teil der Probleme hausgemacht sei. „Die wichtigsten Ursachen für die Mängel unserer Infrastruktur“, so Cyrus de la Rubia, Chefvolkswirt bei der Hamburg Commercial Bank, „sind die jahrzehntelang unterlassenen Investitionen der öffentlichen Hand – die mittlerweile gesprengte Rahmede-Talbrücke lässt grüßen. Hinzu kommen der Fachkräftemangel und die Bürokratie, inklusive aller Probleme unseres föderalen Systems, die das komplizierte Regelsystem noch komplexer machen.“

Lieferengpässe, die inzwischen wohl jedes Unternehmen bereits zu spüren bekommt, können in der Konsequenz sogar letale Auswirkungen haben. Menschenleben sind in Gefahr. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) warnte bereits vor spürbaren Versorgungseinschränkungen, verursacht durch das Fehlen einer für gewisse Operationen notwendige Spüllösung, die insbesondere für urologische Behandlungen unverzichtbar ist. Die jetzige Situation sei – so die DKG – das Ergebnis einer langfristigen Marktentwicklung im Arzneimittel- und Medizinproduktbereich. Durch teilweise falsche Marktanreize hätten sich „Oligopole und Monopole gebildet“, wie das Fachmagazins „Health&Care Management“ Ende Juni kritisierte.

Kriminelle Machenschaften „nur“ ein Teil des Problems

Diese schon seit längerem erkennbare Situation, hatte schon vor einem Jahr die Zeitung „Transport“ zu der Überschrift veranlasst: „Ladungsdiebstähle: Kriminelle stehlen vermehrt Chemie- und Pharmaprodukte sowie Elektronik.“ In dem Beitrag heißt es: „Globale Lieferengpässe haben einige Produkte zur Mangelware gemacht. Entsprechend begehrt sind sie jetzt. Neben elektronischen Geräten drücken daher chemische und pharmazeutische Produkte vermehrt in den Fokus von Dieben.“

Kriminelle Langfinger scheinen jedoch das geringere Problem bei der Verzögerung von Warenlieferungen zu sein. Aber es gibt auch kriminelle Aktivitäten, die deutlich größere Auswirkungen haben. In Japan war es Anfang 2024 im Zusammenhang mit Betrugsfällen in der Fahrzeugindustrie zu einem Rückgang der Industrieproduktion und der Exporte aufgrund von Lieferengpässen gekommen.

„Lieferketten nur schwer krisenfest zu machen“

Der Druck auf die Lieferketten sei „zunehmend geprägt von globalen Umwälzungen und sich überlagernden Krisen, welche die permanente Unsicherheit zur neuen Normalität machen“, betont das Wirtschaftsprüfungsunternehmen Deloitte. „Bislang bewährte Lieferketten erwiesen „sich als fragil und sind für die Zukunft nur schwer und mit viel Aufwand krisenfest zu machen“, stellte die in London ansässige Beratungsgesellschaft anlässlich der Vorstellung der jüngsten Ausgabe ihres Supply Chain Pulse Check fest. Die Lieferkettensituation hätte sich seit der Corona-Pandemie zwar etwas entspannt, das aktuelle Ausfallrisiko der Lieferkette bliebe „aber unverändert hoch im Vergleich zum letzten Jahr.“ Langfristig erwarteten die befragten Unternehmen „eine noch stärkere Verschlechterung der Lieferkettensituation als im Herbst 2023.“

Nadelöhr am Seeweg nach Fernost

Immer wieder richten sich die Blicke in jüngster Zeit auf den Suezkanal. Die Sicherheitsstörungen, die aus den Angriffen der jemenitischen Gruppe Ansar Allah (Huthi) auf Schiffe im Indischen Ozean und an wichtigen Wasserstraßen wie der Bab al-Mandab-Straße resultierten, führten zu einem dramatischen Rückgang der Schiffspassagen im ägyptischen Suezkanal. Der US-amerikanische Logistiker UPS hatte schon im Januar dieses Jahres beklagt, dass „Seeschiffe bei der Fahrt ins Rote Meer auf dem Weg zum Suezkanal Ziel von Raketen-, Drohnen- und Bootsangriffen der jemenitischen Huthi-Miliz“ ausgesetzt seien und die meisten Reedereien „das Rote Meer, um sowohl ihre Beschäftigten als auch ihr Eigentum zu schützen“, meiden. Im Mai 2024 wurden im Vergleich zum Mai 2023 fast 80 Prozent weniger Passagen durchgeführt. Das Webportal „Automobilwoche“ quantifizierte die Folgen: „Fällt diese Route aus, kann das bei einem Autohersteller in Europa schnell zu Mehrkosten von bis zu 20.000 Euro pro Minute führen.“ Die Zahl der Transittage hat sich zudem insgesamt um nahezu zwei Wochen erhöht.

Die Schiffspassagen um die Südspitze Afrikas herum sind nicht nur 7000 Kilometer länger, sie bergen auch erheblich mehr Herausforderungen und Risiken in sich. Das Webportal „navis-ag.com“ vermerkte dazu Mitte Juli: „Durch schwere Unwetter und raue See mit zum Teil über 10 Meter hohen Wellen haben viele Containerschiffe am Kap der Guten Hoffnung, die sich an der Südspitze Südafrikas auf dem Weg zwischen Europa und Asien befinden, aus Sicherheitsgründen die Fahrt verlangsamt oder unterbrochen. Dies wird leider zu weiteren Verzögerungen in der Transitzeit zwischen Europa und Asien führen.“

Die Politik in der Verantwortung

Den „Ausbau der Resilienz kritischer Infrastrukturen gegen Störereignisse, etwa durch das Abbauen struktureller Verwundbarkeiten über eine größere Diversifizierung (z. B. von Lieferketten)“ schlägt der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages in seinem Bericht vor, der am 20. Juni dieses Jahres dem Bundestag vorgelegt wurde (Drucksache 20/11890). Eine wirklich umfassende Antwort auf die Herausforderungen der aktuellen Probleme der Lieferkette wie auch der Anforderungen in den kommenden Jahren ist von der Politik bislang nicht zu vernehmen.

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Peter Niggl

Peter Niggl, Journalist und Chefredakteur der Fachzeitschrift Security Insight

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