Analphabetismus ist ein Problem, das in der unternehmerischen Gesamtsicht nicht ignoriert werden darf- Foto: Pixabay
Ist es lediglich ein Missgeschick oder eine hintergründige Ausrede, wenn jemand bedauernd sagt: „Es tut mir leid, ich habe meine Brille vergessen“ und er deshalb den vorliegenden Text nicht lesen könne? Die Wahrscheinlichkeit allerdings ist groß, dass hier der Versuch gemacht wird, eine – mehr oder weniger ausgeprägte – Lese- und Schreibunfähigkeit zu kaschieren. Es geht also um ein tieferliegendes Problem – um Analphabetismus.
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat dies mit konkreten Zahlen belegt. Demnach können in Deutschland „6,2 Millionen Menschen oder 12,1 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung … nicht oder nur unzureichend lesen und schreiben.“ Und das Ministerium räumt ein, in „Deutschland leben fast zweimal mehr Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten als bislang angenommen.“ Es wäre sträfliche Verantwortungslosigkeit, dieses Problem marginalisieren zu wollen. Die Brisanz der Zahlen wird noch durch die Feststellung untermauert, dass „rund 60 Prozent der Menschen mit Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben erwerbstätig sind.“
Analphabetismus ist also ein Problem, das in der unternehmerischen Gesamtsicht nicht ignoriert werden darf. Man benötigt nicht allzu viel Fantasie, um sich vorzustellen, was geschehen kann, wenn ein Beschäftigter mit dem Text einer Betriebsanleitung oder den Vorsichtsmaßnahmen einer Chemikalie überfordert ist? Um die Dramatik der Situation noch zu unterstreichen, wird vom BMBF noch ergänzt: „Bei weiteren 10,6 Millionen Menschen oder 20,5 Prozent der Erwachsenen tritt fehlerhaftes Schreiben selbst bei gebräuchlichen Wörtern auf.“
Über 45-Jährige besonders stark betroffen
In einer (Arbeits-)Welt, die auf Kommunikation baut und Unternehmensprozesse immer mehr durch Niedergeschriebenes reguliert werden, können solche Defizite der sprachlichen Verständigung schnell weitreichende Folgen haben.
„Die Digitalisierung schraubt die Anforderungen auch für Ungelernte immer mehr in die Höhe“, bemerkte dazu schon 2019 das „Handelsblatt“ und fügte beispielhaft hinzu: „Arbeiter in der Logistik oder in Reinigungsbetrieben könnten schon bald vor der Situation stehen, nicht länger nur Pakete umzuladen oder zu putzen, sondern ihre Arbeit auch auf Displays zu dokumentieren.“
Wer hier schnell die Ursache zu finden glaubt und meint, dass die jungen Leute, die sich nur noch mit ihren Mobiltelefonen beschäftigen, der Kern des Problems seien, wird von der Wissenschaft schnell eines Besseren belehrt. „Menschen über 45 Jahre“, so gibt das BMBF die Ergebnisse einer Studie Uni Hamburg wieder, „machen den größeren Teil der Erwachsenen mit geringen Fähigkeiten im Lesen und Schreiben aus. Den beiden ältesten Jahrgangsgruppen gehören 46,9 Prozent an. Ältere Menschen sind demnach häufiger betroffen als junge Erwachsene.“
Auch die Verteilung nach dem Geschlecht weist eine Besonderheit auf. Während in den Entwicklungsländern zum übergroßen Teil Frauen und Mädchen von Analphabetismus betroffen sind, was sich mit ihrer Stellung in der Gesellschaft und damit verbunden den Schwierigkeiten beim Zugang zu Bildungseinrichtungen erklären lässt, machen hierzulande Frauen mit 41,6 Prozent den kleineren Anteil an der Gruppe der Analphabeten aus.
Die Dekade für Alphabetisierung
Mit dem Begriff Analphabet ist eine recht weitgefasste Einordnung gegeben. Unter diesem Begriff fallen Menschen, die überhaupt nicht lesen und schreiben, wie auch andere, die noch einzelne Wörter entziffern können. Andere – sie stellen die wahrscheinlich größte Gruppe – haben Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben oder sind nicht in der Lage, die Schrift im Alltag so anzuwenden, wie es im Allgemeinen als selbstverständlich angesehen wird. Letztere werden als „funktionale Analphabeten“ bezeichnet.
Die Betroffenen, so hieß es 2015 in einem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD im Bundestag zur Umsetzung der Dekade für Alphabetisierung in Deutschland, „können zwar einzelne Wörter oder Sätze lesen und schreiben, nicht jedoch zusammenhängende Texte wie zum Beispiel Arbeitsanweisungen, Behördenbriefe, Zeitungen oder Bücher.“ In Deutschland betrifft dies 14 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung, so die Parlamentarier.
Viele haben eine feste Anstellung
Dabei handelt es sich bei der in diesen Zahlen erfassten Personengruppe nicht in erster Linie um Migranten, die des Deutschen unzureichend mächtig sind, denn diese wurden für die Statistik nicht berücksichtigt.
Dennoch ist der Anteil der Analphabeten (fachlich wird der Begriff „gering literalisiert“ bevorzugt), die in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis stehen, relativ hoch. Rund viereinhalb Millionen Analphabeten sind in Unternehmen beschäftigt. „Focus online“ listet unter Berufung auf andere Pressequellen auf, in welchen Branchen diese hauptsächlich eine Anstellung finden:
„In der Nahrungsmittelzubereitung liegt der Anteil der gering Literalisierten unter den deutsch sprechenden Hilfskräften bei 46,5 Prozent.
Mit 29,5 Prozent ist laut Bericht auch unter Reinigungskräften sowie unter Arbeitern, die stationäre Anlagen und Maschinen bedienen (29,3 Prozent), der Anteil der funktionalen Analphabeten ebenfalls sehr hoch.
Das Gleiche gelte für Fachkräfte am Bau, von denen mit 26,9 mehr als jeder Vierte betroffen sei.
Auch 18,1 Prozent der Elektriker würden von den Bildungsforschern zu den gering Literalisierten gezählt.“
Durch Angst und Scham gehemmt
Bei aller Notwendigkeit, das Problem in Zahlen zu fassen, muss jedoch immer berücksichtigt werden, dass es sich äußerst schwierig gestaltet, an Betroffene heranzukommen. Die gesellschaftliche Stigmatisierung lässt das Gros der Betroffenen davor zurückschrecken, sich mit ihrem Defizit zu outen. Viele haben ganz eigene Techniken entwickelt, um „unerkannt“ durchs Leben zu kommen. Das reicht von der schon erwähnten „vergessenen Brille“ über die „verstauchte Hand“ bis zum „das will ich mir zuhause genau ansehen“. Die emotionale Reaktion auf eine mögliche Entdeckung reicht von dem leisen Abwiegeln bis zum aggressiven Ablehnen, man habe gerade „etwas wichtigeres zu tun“ oder „ist das zu viel verlangt, mir ein paar Zeilen vorzulesen, weil ich meine Brille vergessen habe?“ Solches Selbstschutz-Verhalten erschwert zusätzlich jeden Versuch, den Betroffenen Hilfsangebote näher zu bringen. „Die Suche nach Interviewpartnern unter den Betroffenen ist schwierig, zu groß sind Angst und Scham. Lediglich eine Handvoll erfolgreicher ehemaliger funktionaler Analphabeten … ist bereit, über ihre Erfahrungen zu sprechen“, klagt man auch bei der DGB-nahen Hans-Böckler-Stiftung, die sich als Bildungseinrichtung für Arbeitnehmer dieses Themas ebenfalls angenommen hat.
„Grundbildung ist Firmensache“, heißt es in einem Beitrag des SWR, der sich mit dem „Mento“-Programm des DGB beschäftigt. Tenor: In Zeiten des Fachkräftemangels ist noch dringender geboten, Beschäftigte mit Lese-Schreib-Defiziten zu unterstützen und sie so für das Unternehmen zu halten. „Betriebe diesbezüglich zu überzeugen sei heute einfacher als noch vor ein paar Jahren“, heißt das Resümee des Beitrages, in dem auch konstatiert wird, dass gerade in den gegenwärtigen schwierigen Zeiten es vielen Betrieben schwerfällt, sich dieser Aufgabe anzunehmen.
Dennoch, so der Autor des Beitrages, „werden Betriebe gerade in Krisensituationen mit dem Grundbildungsbedarf ihrer Belegschaft konfrontiert: ‚Wir haben ständig neue Anweisungen bekommen, wie wir uns in der Corona-Situation zu verhalten haben‘,“ wird Sabine Biller zitiert, die den Betriebsrat für den Servicebetrieb der Stadt Nürnberg leitet. Biller weiter: „Gerade in der Corona-Zeit waren die Hinweise, wie wir uns zu verhalten haben, rechtssicher verfasst. Aber diese Rechtsicherheit, hat dann dazu geführt, dass so manche Schriftstücke sehr vielseitig waren. Und ich muss ehrlich gestehen, ab Seite fünf wusste ich dann auch nicht mehr, was ich auf Seite eins gelesen habe.“
Im rheinland-pfälzischen Kreis Neuwied hat man aus dieser Erkenntnis, dass viele Betroffene unter ihrem Handicap leiden und es deshalb aus Scham verschweigen, eigene Schlussfolgerungen gezogen. Die Stadt bietet deshalb Unterstützung an, wie sie besser an die Betroffenen heran und mit ihnen über ihr Problem ins Gespräch kommen können. Das Angebot, so heißt es im Webportal „NK-Kurier“, „wendet sich sowohl an Personalverantwortliche aus Handwerk, Industrie, und Service als auch an MitarbeiterInnen im Dienstleistungs- und Beratungsbereich.“ Damit macht man deutlich, dass man die Unternehmen und Behörden in der Pflicht sieht, sich an der Lösung des Problems zu beteiligen.
Schlechte Bildung bei jungen Menschen, also auch Analphabetismus, könnte in den kommenden Jahren für die Gesellschaft extrem teuer werden, heißt es in dem webportal. Die Bertelsmann-Stiftung hatte 2009 berechnet, dass in den kommenden 20 Jahren ein Schaden von 69 Milliarden Euro entstehen könnte.
Die Schätzung scheint alles andere als übertrieben, wie auch die Ergebnisse anderer Organisationen belegen. Im März 2019 lieferte die ARD-Sendung „VoxPop“ weitere Zahlen. Der durch Analphabetismus verursachte volkswirtschaftliche Schaden, so der Sender, „wird EU-weit auf 360 Millionen Euro geschätzt. Dazu zählen vermehrte Kosten für das Gesundheitssystem, etwa, weil die Betroffenen nicht frühzeitig behandelt werden, kein Rezept lesen können oder Angst vor dem Arztbesuch haben. Doch auch auf die Produktivität von Unternehmen wirkt sich mangelnde Lese- und Schreibkompetenz negativ aus.“
Ein weltweites Problem
Die Bundesregierung hatte unter dem Eindruck der negativen Bilanz im April 2021 noch einmal betont, dass mit „dem Ziel einer Verbesserung des Grundbildungsniveaus und der Verringerung des funktionalen Analphabetismus … die ‚Nationale Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung 2016-2026‘ ins Leben gerufen“ worden sei. Der Bund fördere die AlphaDekade mit rund 180 Millionen Euro. „Gefördert werden insbesondere Projekte, die Beschäftigte mit Alphabetisierungs- und Grundbildungsbedarf am Arbeitsplatz unterstützen. Diese Maßnahme zielt insbesondere auf die länderspezifische Empfehlung ab, Bildungsergebnisse und das Kompetenzniveau benachteiligter Gruppen zu verbessern.“
Weit früher hat man sich in Down Under des Problems angenommen. Die 2003 im australischen Melbourne ins Leben gerufene World Literacy Foundation (WLF) geht davon aus, das zehn Prozent der Menschen auf dem Globus Analphabeten sind, also etwa 750 Millionen. 2018 trat die WLF mit der Erkenntnis an die Öffentlichkeit, dass Menschen mit geringen Lese- und Schreibkenntnissen die Weltwirtschaft jährlich schätzungsweise 800 Milliarden britische Pfund (ca. 900 Mrd. Euro) kosten würden. Dem Vereinigten Königreich bescherte der Analphabetismus im selben Jahr Kosten von rund 80 Milliarden Pfund im Zusammenhang mit Sozialhilfe, Arbeitslosigkeit und Sozialprogrammen sowie durch geringere Steuereinnahmen und Produktivität.
Barack Obama stellte vor seiner Wahl zum US-Präsidenten fest, man wisse in den Vereinigten Staaten, dass man „aufgrund des globalen Wettbewerbs (und erst recht, wenn wir uns den Werten der Chancengleichheit und der sozialen Mobilität verpflichtet fühlen) unser Bildungssystem von Grund auf reformieren, unsere Lehrerschaft vergrößern, die Ausbildung in Mathematik und den Naturwissenschaften energisch verbessern und den Analphabetismus bei den Kindern der Innenstädte mit aller Macht bekämpfen müssten.“
Der Verweis auf Kinder ist in vielerlei Hinsicht von grundlegender Bedeutung. Zum einen kann im Kindesalter am erfolgversprechendsten gegen die bemerkbar werdenden Defizite gegengesteuert werden. Allerdings: „Viele Lehrkräfte erkennen Kinder mit Lese- und Rechtschreibschwäche nicht. In der Lehramts-Ausbildung spielt das Thema praktisch keine Rolle“, wie der SWR im Oktober 2019 bemängelte. In ihrem weiteren Leben ist, wie die WLF betont, bei Personen mit geringen Lese- und Schreibkenntnissen die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie schlechtere Beschäftigungschancen und -ergebnisse haben und ein geringeres Einkommen erzielen. Infolgedessen seien sie häufig von der Sozialhilfe abhängig, haben ein geringes Selbstwertgefühl und ein höheres Maß an Kriminalität.
Ende vergangenen Jahres schickte ein Gericht in Leverkusen das Familienoberhaupt des dortigen libanesischen Al-Zein-Clans wegen Geiselnahme und bandenmäßigen Sozialbetrugs für sechs Jahre hinter Gitter. Strafmildernd wertete das Gericht, so heißt es in einer Pressemeldung, dass der Clan-Chef als Analphabet während der Untersuchungshaft keinen Kontakt zu seiner Familie habe halten können.
Weit größer jedoch ist das Problem, dass Menschen mit funktionalem Analphabetismus große Schwierigkeiten haben, sich normal am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen oder gar ihre Rechte durchzusetzen. Jeder Behördengang wird für sie zur Qual, die Teilnahme an Wahlen zu einer nur schwer zu bewältigenden Hürde.
Internationale Vergleiche können nicht beruhigen
Dass andere europäische Industriestaaten noch schlechter dastehen als Deutschland, kann nicht beruhigen, sondern bestenfalls als weiteres Alarmsignal gewertet werden.
In Italien zum Beispiel ist der funktionale Analphabetismus nach wie vor sehr hoch. Dies wird durch die zuverlässigen Daten der Piaac-OECD-Erhebung von 2019 bestätigt, der letzten verfügbaren Erhebung zu diesem Thema. Demnach sind in Italien etwa 28 Prozent der erwachsenen Bevölkerung zwischen 16 und 65 Jahren funktionale Analphabeten. Dies ist einer der schlechtesten Werte in Europa und liegt nur noch hinter der Türkei, wo fast jeder Zweite – genau gesagt: 47 Prozent der Bevölkerung – von diesem Problem betroffen sind.
Nicht sehr gut sieht es auch in unserem westlichen Nachbarland aus. 2,5 Millionen Franzosen können – wie der Deutschlandfunk 2018 berichtete – nicht richtig lesen und schreiben. Anders als in Deutschland ziehen Staat und Zivilgesellschaft in Frankreich jedoch an einem Strang und veranstalteten in dem Jahr dieser Veröffentlichung bereits zum fünften Mal eine Aktionswoche für mehr Lese- und Schreibkompetenz.
Um in Deutschland auf dem Weg zur Beseitigung des Analphabetismus spürbar voranzukommen, wird es notwendig sein, von Seiten der Politik klare und messbare Ziele zu formulieren.
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Peter Niggl
Peter Niggl, Journalist und Chefredakteur der Fachzeitschrift Security Insight