Schuld und Sühne im Business
Die Reederei der havarierten Costa Concordia war an einem schnellen Vergleich interessiert. Bildquelle: pixabay
Prozessfinanzierer sehen sich auf dem Vormarsch
Von Peter Niggl
Aneinandergereiht würden sie eineinhalbmal um den Globus reichen: Die 13,36 Millionen Autos, die allein im ersten Halbjahr dieses Jahres (erfasster Zeitraum vom 1. Januar bis 13. Juli) weltweit zurückgerufen wurden. Die Zahl stammt aus einer Statistik des Marktanalysten Finance in Bold (Finbold). Auf dieser Rankingliste, die vom japanischen Automobilriesen Toyota mit fast vier Millionen recalls angeführt wird, liegt VW als erste deutsche Firma in der Aufstellung mit 16.090 Rückrufen auf Platz neun. Das wirkt vergleichsweise unbedeutend. Alles in Butter für die deutschen Autobauer? Das Zahlenspiel hat seine Schattenseiten. Eine große Rückrufaktion von BMW, die „seit vielen Jahren Autokäufer und Hersteller rund um den Globus Nerven kostet“ (Merkur.de), fließt in die Aufstellung gar nicht mit ein. Auch den Rückruf von Daimler für fast 300.000 Autos wegen Brandgefahr findet man in der Statistik nicht. Bei allem Zahlenwirrwarr bleibt zumindest festzustellen, die Automobilbranche steht unbestritten auf der Pole-Position, wenn es darum geht, beanstandete Produkte zurückzuholen.
Produkte-Rückrufe können als Synonym eines allgemeinen Trends gewertet werden - und der heißt Haftung. Dahinter verbirgt sich ein komplexes Geflecht von Schadensersatzforderungen und anderen Ausgleichszahlungen. Die Summen, die auf diesem Gebiet anfallen steigen stetig. Das hat Auswirkungen auf unser Rechtssystem. Bei Entschädigungen richten sich zurzeit die Blicke immer noch in erster Linie auf die USA, wo immer wieder Abfindungssummen in „astronomischer Höhe“ gerichtlich verhängt oder in Vergleichen vereinbart werden. Gelegentlich liebäugeln deutsche Anwaltskanzleien mit der Möglichkeit, ein Verfahren vor einem US-Gericht führen zu können. Frei nach Goethe: „Wer sich den Gesetzen nicht fügen lernt, muss die Gegend verlassen, wo sie gelten.“
Blick auf die USA ist angebracht
Deshalb lohnt sich ein genauerer Blick über den Atlantik, denn die dort geübte Praxis könnte früher oder später auch bei uns Einzug halten. Auch wenn nicht davon auszugehen ist, dass Urteile wie das gegen den Zigarettenhersteller Philip Morris - erstritten schon vor vielen Jahren von der Witwe eines Kettenrauchers - in Höhe von umgerechnet 60 Millionen Euro von deutschen Gerichten in naher Zukunft zu erwarten sind. Die Haftungsrisiken für Unternehmen aber nehmen zu. Eine neue Studie mit dem Titel „5 Liability Risk Trends“ der Allianz Global Corporate & Specialty (AGCS) zeigt fünf neue Risikotendenzen auf, für die Unternehmen von Dritten in Haftung genommen werden könnten.
Ein Blick auf die USA ist auch deshalb angebracht, weil es die dortige Gesetzgebung zulässt, Unternehmen in die Haftung zu nehmen, die lediglich Geschäfte in den USA tätigen. In den Vereinigten Staaten hat es laut der Studie der Allianz-Großkunden-Sparte AGCS im vergangenen Jahr 74 Vergleiche mit einem Gesamtvolumen von zwei Milliarden US-Dollar und vier Mega-Vergleiche mit einem Gesamtvolumen von über 100 Millionen US-Dollar gegeben. Das seien 45 Prozent aller „Vergleichsdollars“, diese summierten sich aus lediglich fünf Prozent aller Fälle. Die mittleren Fallbeträge seien, so heißt es weiter, von 2001 bis 2014 um rund 1 bis 1,5 Millionen US-Dollar pro Jahr gestiegen. Hätten sich dann von 2015 bis 2017 auf 2 bis 2,5 Millionen US-Dollar pro Jahr erhöht und seien schließlich auf fast 4 Millionen US-Dollar pro Jahr für 2018 und 2019 geklettert.
Kläger können sich leichter organisieren
Als Ursache für die steigenden Zahlen bei Rückrufen und anderen Schadensersatzfällen werden verschiedene Faktoren genannt. Zum einen sind komplexere Technologien und Vorgänge fehleranfälliger, zum anderen steigert der erhöhte Leistungs-‑ und der damit verbundene Zeitdruck einhergehend mit sinkender Sorgfaltspflicht bei der Prüfung ebenfalls die Gefahr von Mängeln, dazu kommt das Outsourcing von Teilen der Produktion. Nicht zu unterschätzen ist jedoch auch, dass mit dem World Wide Web die Möglichkeiten rasant zugenommen haben, dass Geschädigte sich untereinander schnell verständigen und zu gemeinschaftlichen Vorgehen zusammenschließen können. Zahlreiche Internet-Plattformen bieten sich inzwischen hierfür – sicherlich nicht ganz uneigennützig – als Basisstationen an.
Der Begriff „soziale Inflation“ wird schon seit einiger Zeit gebraucht, erhält jedoch immer mehr Bedeutung und gilt insbesondere in den USA als ein weitverbreitetes Phänomen. Darunter werden, nach Definition der Allianz, „Sammelklagen und hohe Abfindungssummen für Geschädigte; teure Rückrufaktionen in der Automobil- und Lebensmittelindustrie; Schäden durch Proteste und Ausschreitungen sowie steigende Haftungsrisiken für Umwelt- oder Gesundheitsschäden“ subsumiert.
In juristischen Streitigkeiten haben Prozessfinanzierer (engl.: litigation funders) in den 2000er Jahren stetig an Bedeutung gewonnen. In Deutschland nutzen diese juristischen Finanzdienstleister die gesetzliche Besonderheit, die es Rechtsanwälten weitgehend untersagt, auf Basis einer „Gewinnbeteiligung“ ihre Dienste anzubieten und in Rechnung zu stellen. So waren und sind aufwändige Verfahren für die Advokaten oftmals nicht hinreichend lukrativ und für einzelne Verfahrensbeteiligte mitunter finanziell nicht zu stemmen.
In der Haftung haben sich die Summen erhöht
Durch das Auftreten von Prozessfinanzierern ändert sich die Lage grundlegend. Dr. Arndt Eversberg, der seit Frühjahr 2012 die Geschäfte des heute weltweit führenden Prozessfinanzierers Omni Bridgeway im Bereich Deutschland, Österreich und der Schweiz verantwortet, sieht deutliche Trends. Im Gespräch mit Security Insight bestätigt er, dass „bei den Schmerzensgeld-Urteilen sich die Summen deutlich erhöht haben.“ Das sei seiner Meinung nach jedoch eher ein Randbereich. „Bei der Unternehmenshaftung haben sich augenscheinlich die Summen ebenfalls erhöht, das liege auch daran, dass anders und mehr geklagt wird. Und dabei auch andere Summen verlangt werden“, so Eversberg, der als Rechtsanwalt seit zwei Jahrzehnten in der Prozessfinanzierung tätig ist.
Dabei betont er, dass sein Unternehmen keine Lust auf Hasardspiele verspürt. Nüchterne Kosten-Nutzen-Abwägung bestimmen auch hier das unternehmerische Handeln. In der Frage nach den Erfolgschancen einer Schadensersatzklage der Infizierten in Sachen des Corona-Hotspots Ischgl zeigt sich Eversberg zurückhaltend. „Die Gemengelage zwischen dem österreichischen Bundesland Tirol und den Hotelbetreibern in Ischgl, wie auch der Frage, wer wann was gesagt habe, ist sehr unübersichtlich. Die Aussichten auf einen juristischen Erfolg in einer Schadensersatzklage sind deshalb nicht hinreichend gegeben.“
Die Dimension solcher Prozessfinanzierung wird schnell deutlich, wenn man sich den Rechtsstreit mit VW vor Augen hält. Omni Bridgeway finanziert in Deutschland rund einhundert Klagen von Kunden gegen Volkswagen und unterstützt mehr als zehntausend VW-Käufer in Österreich in Zusammenarbeit mit der dortigen Verbraucherzentrale (VKI).
Aber auch in anderen Punkten wird VW von seiner Geschichte eingeholt und muss für dunkle Kapitel in seiner Werksgeschichte haften. Da der VW-Werkschutz in der Zeit der Militärdiktatur in Brasilien zwischen 1964 und 1985 mit dem Regime kollaboriert hat, sollen ehemalige Mitarbeiter des Autobauers, die Opfer des Regimes wurden, mit rund 2,6 Millionen Euro entschädigt werden. Dies wurde im September dieses Jahrs bekannt gegeben. Für Arndt Eversberg erweist sich das Kräfteverhältnis zwischen Geschädigten und Verursachen vor Gericht immer als Kampf von David gegen Goliath „und hierbei stehen wir auf der Seite von David.“
Kafkaest anmutende Justizposse
Ein höchst tragisches und gleichzeitig skurriles Nachspiel hat das Unglück von Kaprun. Nachdem vor 20 Jahren in dem österreichischen Wintersportort bei einem Brand in der dortigen Gletscherbahn 155 Menschen in Feuer und Rauch ihr Leben verloren hatten, begannen für den Haushaltsgeräte-Hersteller „Fakir“ aus dem württembergischen Vaihingen eine geradezu kafkaest anmutende Justizposse, um die Schuldfrage. Ein Heizlüfter dieser Marke war in die Bahn eingebaut worden und galt ursächlich als Auslöser des Brandes. Fakir wurde verurteilt, obwohl die Einschränkung in der Bedienungsanleitung unmissverständlich war: „Gerät darf nicht in Fahrzeuge eingebaut und dort betrieben werden.“ Es dauerte 10 Jahre, bis die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren gegen die Manager einstellte. Die Betreiber der Bahn und die Vertreter der öffentlichen Aufsicht behielten von vornherein, juristisch abgesegnet eine weiße Weste.
Gewisse Parallelen zum Fall von Kaprun lassen sich auch in der Haftungsfrage bei der juristischen Aufarbeitung des Absturzes einer Germanwings-Maschine im März 2015 in Frankreich ausmachen. Die Klage von Hinterbliebenen der 150 Toten gegen die Lufthansa wurde im Juli dieses Jahres vom Landgericht Essen zurückgewiesen. Die Lufthansa, deren Tochter Germanwings ist, und die ebenfalls beklagte Flugschule der Lufthansa in den USA seien die falschen Adressaten der Klage, hieß es. Demnach waren nach Auffassung der 16. Zivilkammer des Gerichts beide nicht für die fliegerärztliche Untersuchung des Piloten Andreas L. zuständig, die die Maschine zum Absturz brachte. Stattdessen bedeutete der Richter, dass eher das Luftfahrtbundesamt als die Lufthansa in die Pflicht zu nehmen sei. Der Berliner Professor und Spezialist für Luftfahrtrecht, Elmar Giemulla, der die Kläger vertritt, zeigt für diesen juristischen Kunstgriff wenig Verständnis. Gegenüber Security Insight betonte er: „Dieses Urteil hat alle überrascht, selbst das Luftfahrtbundesamt. Ich bin sicher, es wird keinen Bestand haben.“
30 Jahre dauerndes Verfahren
Solche Winkelzüge zu durchkreuzen, haben Prozessfinanzierer zur Geschäftsidee gemacht. Eine ihrer wesentlichen Aufgaben liegt darin, Kläger oder Beklagte darin zu unterstützen, besonders in die Länge gezogene Verfahren durchzustehen. Überlange Gerichtsverfahren sind in Deutschland zwar inzwischen rechtlich nicht mehr zulässig, aber Lücken zur Verzögerung gerichtlicher Entscheidungen sind weiterhin zu finden. Rund drei Jahrzehnte hatte der Saarländer Kaufmann Jürgen Gräßer für den Bau eines Supermarktes in der Landeshauptstadt Saarbrücken gekämpft. Millionen hat er dafür aufgewendet, ohne Erfolg. Alle juristischen Anstrengungen auf Entschädigungen scheiterten vor deutschen Gerichten. Am Ende konnte er 2006 vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 45.000 Euro Schmerzensgeld erstreiten. Sein Erfolg vor dem EGMR war zugleich das Signal für die Neuregelungen der rechtlichen Möglichkeiten gegen überlange Gerichtsverfahren.
Mit raschen Vergleichsangeboten wollen Schadensverursacher bisweilen das Heft des Handelns in der Hand behalten, um damit Klagen zuvorzukommen. Zwei Drittel der Überlebenden des Unglücks des italienischen Kreuzfahrtschiffes „Costa Concordia“ vom 13. Januar 2012 haben bereits kurz nach der Havarie eine pauschale Entschädigung von 11.000 Euro angenommen. Damit entging die Reederei Schadensersatz- und Schmerzensgeldprozessen. Nur zehn Prozent der 3050 betroffenen Passagiere hätten hingegen laut Presseberichten Klagen angestrengt. Die pauschale Entschädigung gelte für alle unverletzten Überlebenden des Unglücks.
Kartelle im Visier
Auf die Frage, in welchen Bereichen die größten Schadensersatzprozesse in Deutschland geführt würden, nennt Eversberg Kartellschadensersatzverfahren. Allerdings wurde im Februar dieses Jahres die Klage eines Inkassounternehmens auf Schadensersatz von diversen Lkw- Herstellern, darunter Daimler und MAN, wegen verbotener Preisabsprachen, vom Landgericht München abgeschmettert. Die geforderte Summe belief sich auf 867 Millionen Euro. Auch die Deutsche Bahn, die Bundeswehr und rund 200 Speditionsunternehmen meldeten sich mit einer Forderung zu Wort, welche die größten europäischen Lastwagenhersteller 385 Millionen Euro Schadenersatz wegen angeblich überhöhter Preise kosten könnte. An diesen Summen machen sich auch Gerichts- und Anwaltskosten fest. Daraus ergeben sich Dimensionen, die auch von kleineren und mittleren geschädigten Unternehmen oft nur mit großen Mühen und mit erheblichem Risiko behaftet, aufgebracht werden können. Von A wie Aufzugskartell bis Z wie Zuckerkartell haben aber – nicht zuletzt durch die Unterstützung der Prozessfinanzierer - inzwischen viele wettbewerbswidrige Absprachen ihren Weg in die Gerichte gefunden – für die betroffenen Unternehmen drohen Zahlungen in zwei- bis dreifacher Millionenhöhe.
Pandemie bringt zusätzlich Schwierigkeiten
Dahinter verbirgt sich ein bizarrer juristischer Sachverhalt, der auf der Website Gesundheit-Medikamente.com veranschaulicht wird: „Die Rechte der Patienten werden in Deutschland immer mehr gestärkt. Betrachtet man allein die Anzahl an Klagen gegen Ärzte wegen Kunstfehlern, sieht man, dass sich deutsche Patienten nur noch wenig gefallen lassen. Allein circa 40.000 Klagen werden jährlich in diesem Bereich verhandelt. Von erfolgreichen Klagen gegen die Pharmaunternehmen hingegen hört man aus Deutschland keinen Ton. Dies liegt vor allem an einer einzigen, allerdings umfassenden Begründung: Der fehlende Nachweis der Ursache-Wirkung-Kausalität.“
Ein weit über den medizinischen Aspekt hinausgehender Klagegrund wird in allernächster Zukunft die Pandemie sein. Auswirkungen auf die juristischen Abläufe vor Gericht sieht auch Arndt Eversberg. „Es ist schon jetzt abzusehen, dass Kläger mit Verzögerung an ihr Geld kommen. Das kann für einige erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten bedeuten und eine angespannte Liquiditätslage noch verschlechtern.“
Klagen gegen staatliche Maßnahmen hatten bereits Erfolg, es wird die Frage sein, ob auch die angekündigten Entschädigungsklagen von Erfolg gekrönt sein werden. Zweifellos eröffnet sich ein ganz neues Feld von Haftungsfragen. Inwieweit wird ein Versteckspiel mit vis maior (umgangssprachlich für höhere Gewalt) dann juristisch greifen? Eine vorausschauende Geschäftsstrategie wird sich mit allen Imponderabilien beschäftigen müssen.
Bildunterschrift: Die Reederei der havarierten Costa Concordia war an einem schnellen Vergleich interessiert.
Foto: pixabay
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Peter Niggl
Peter Niggl, Journalist und Chefredakteur der Fachzeitschrift Security Insight