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“Über Einwanderung sprechen!”

11.11.2021
Im Interview: Michael Sorge, ehemals Leiter Corporate Security Bayer AG
Im Interview: Michael Sorge, ehemals Leiter Corporate Security Bayer AG

Mit Michael Sorge, ehemals Leiter Corporate Security Bayer AG, sprach Peter Niggl

Herr Sorge, der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit prognostiziert für die kommenden Jahre einen enormen Bedarf an Arbeitskräften, die durch Zuwanderung gewonnen werden sollen. Ist der Bedarf tatsächlich vorhanden und ist es angesichts gegenwärtiger Sicherheitsbedenken überhaupt sinnvoll, ihn auf diese Weise zu decken?

Sie sprechen gleich ein ganzes Bündel von Fragen an, die man meines Erachtens säuberlich trennen muss, wenn man sich des Themas annimmt. Der Vorsitzende der BA, Detlef Scheele, hat vor kurzem gegenüber der Presse erklärt, dass Deutschland 400.000 Fachkräfte jährlich benötigt und diese im Ausland gewonnen werden sollen. Dabei verwendet er wörtlich den Begriff „Zuwanderer für die Lücken am Arbeitsmarkt“ und im nächsten Satz kommt direkt der Hinweis wörtlich: „Aber mir geht es hier nicht um Asyl.“ Zunächst ist zu sagen, Herr Scheele hat Recht, der Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften ist real. Eine Befragung der Manpower Group ergab im Jahr 2019, dass international circa 54 Prozent der Unternehmen über einen Mangel an Fachkräften klagen. Hier endet aber meine Übereinstimmung mit den Darlegungen des BA-Chefs.

Der Begriff „Zuwanderung“ ist seit der Zeit der sogenannten Gastarbeiter negativ konnotiert. Zum anderen ist die Abgrenzung zum Thema Asyl geradezu eine sprachliche Reflexbewegung, die auf die damit verbundenen Probleme und Ressentiments abzielt. In der Vermischung beider Bereiche – auch in den Köpfen vieler Mitbürger – liegt der Grund dafür, dass immer Fragen der Sicherheit in den Vordergrund gerückt werden. Für den Komplex des Asyls ist das besonders nach den Erfahrungen ab 2015 verständlich. Schlagzeilen wie „Clan-Kriminalität“ oder „Ehrenmorde“ und ähnliche tun das Ihrige.

Bei den Fachkräften die angeworben werden sollen oder sogar müssen, geht es um etwas völlig anderes. Und hier komme ich auf die Einlassungen von Herrn Scheele zurück: Er spricht von Zuwanderern – diese Terminologie hat eher noch den alten, temporären Ansatz des Gastarbeiters und zeigt die zögerliche Haltung gegenüber einem klaren Bekenntnis zur Einwanderung. Politische Zaghaftigkeit erschwert die Lösung der Aufgabe allerdings unnötig.

Das Gastarbeiter-Thema liegt nun schon einige Jahrzehnte zurück…

…ist aber immer noch höchst aktuell. Der Geist von damals hält sich äußerst hartnäckig. Der Gestus, dass sich Arbeitskräfte aus armen Ländern bei uns gutes Geld verdienen würden und sich entsprechend servil zu verhalten hätten, hat sich doch bis in unsere Tage erhalten. Ich erinnere an den Skandal in der Fleischindustrie. Da wurde vor aller Öffentlichkeit deutlich, dass diese Beschäftigten für Dumpinglöhne, ohne die geringsten Rechte und ohne Gesundheitsversorgung für Billigfleisch sorgen. Und nach einer kurzen Empörungswelle, wurde weitergemacht wie bisher. Da darf man sich nicht wundern, wenn einigen von denen abgleiten in illegale Strukturen. Die hier sichtbar gewordenen Missstände müssen ein für alle Mal abgestellt werden, wenn wir die Voraussetzung für eine geregelte und moderne Einwanderungspolitik schaffen wollen.

Die Vorfälle in der Fleischindustrie haben noch einen weiteren Schwachpunkt sichtbar gemacht: Den Einsatz von Subunternehmen, die im Ausland angesiedelt sind und Unternehmen von ihrer Verantwortung befreien, weil sie nicht in den Geltungsbereich deutscher Gesetze fallen. Das ist zwar anrüchig und wird unisono kritisiert, aber es war nicht illegal. Auch auf diesem Gebiet sind weitreichende Gesetzesänderungen unumgänglich. Wie auch Lohndumping gesetzlich unterbunden werden muss.

Wie kann man dann bei der Anwerbung von Fachkräften verfahren und dabei den Befindlichkeiten in der Bevölkerung Rechnung tragen?

Es gibt Beispiele anderer Länder, die wertvolle Ansätze liefern. Prof. Dr. Rainer Geißler von der Uni Siegen hat schon vor fast eineinhalb Jahrzehnten die vier Merkmale eines erfolgreichen und modernen Einwanderungslandes am Beispiel Kanada beschrieben. Das sind eine transparente Einwanderungspolitik, eine durchdachte Integrationspolitik, die Einheit von Einwanderung und Integration sowie die Akzeptanz in der Gesellschaft. Beim letzten Punkt möchte ich wieder auf das Thema Sicherheit kommen, allerdings unter ganz anderen Vorzeichen. Wir – ob Regierung und Behörden oder der einzelne Bürger – sind gleichermaßen gefordert, die Sicherheit der Menschen zu garantieren, die hierherkommen, um zu arbeiten. Und, um das gleich anzufügen, für diese Menschen muss angemessener und bezahlbarer Wohnraum vorhanden sein. Angesichts der gegenwärtigen Situation auf dem Wohnungsmarkt, keine kleine Herausforderung. Hier wird eine Lücke sichtbar. Diese Lücke besteht darin, dass wir uns auf die Anforderung, Arbeitskräfte im großen Stil anzuwerben, in der Vergangenheit nicht vorbereitet haben. Der Fehler besteht darin, dass wir stets eine reaktive Ausländer‑ oder Asylpolitik betrieben haben, aber keine proaktive, an den Anfordernissen orientierte Einwanderungspolitik. Die Folgen werden wir noch schmerzhaft zu spüren bekommen. Andere Staaten konkurrieren mit uns um die besten Arbeitskräfte. Darin liegt der signifikante Unterschied zu Kanada, das seit über einem halben Jahrhundert seine Bedingungen für Einwanderung fortentwickelt.

Worin liegt nun das Besondere am kanadischen Modell?

Die Regierung in Ottawa ist seit 1967 damit befasst, die Rahmenbedingungen für Einwanderer bedarfsgemäß ständig weiter zu entwickeln. Dabei ist das Land in gewissen Punkten im Vorteil. Die Landessprachen sind Englisch und Französisch, welche von Einwanderern sehr viel eher als Voraussetzung mitgebracht werden, als zum Beispiel Deutsch. Und für Familienangehörige werden entsprechende Angebote bereitgestellt, wie zum Beispiel Bildungseinrichtungen für Kinder.

Die Voraussetzungen der Bewerber für die Einwanderung werden, wie sie Prof. Geißler beschreibt, seit Jahren mit einem Punktesystem bewertet. Da stehen an erster Stelle Bildung, Sprachkenntnisse und Berufserfahrung. Hier können Aspiranten für die kanadische Staatbürgerschaft siebzig Prozent der notwenigen Punktzahl erreichen.

Hier kann man sehen, dass es einen globalen Wettbewerb um dringend benötigte Arbeitskräfte gibt. Ist man sich dessen bei uns bewusst?

Darauf kann ich mit einem klaren Nein antworten. Hochqualifizierte Spezialisten, die mit ihrem Partner oder der Familie zu uns kommen, haben eine andere Anspruchshaltung, als die sogenannten Gastarbeiter vor einem halben Jahrhundert. Schauen wir uns noch einmal die jetzt genannte Zahl von 400.000 an. Mit Familienangehörigen kommt man auf die Größenordnung einer Stadt wie Düsseldorf, für die jedes Jahr Wohnungen, Kindergärten, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, ein Kultur- und Sportangebot bereitgestellt werden muss. Auf allen diesen Gebieten haben wir schon heute erhebliche Defizite und ein Plan, sich dieser Herausforderung zu stellen, ist nicht zu erkennen. Man kann aber davon ausgehen, dass ein Mediziner oder ein IT-Experte, wenn er schon nach Deutschland käme, bei unzureichenden Bedingungen schnell wieder die Koffer packt.

Die andere Seite ist, wenn die sozial, kulturelle und gesellschaftliche Integration nicht funktioniert und Einwanderer an den gesellschaftlichen Rand gedrückt werden, dass dann das Sicherheitsproblem in den Vordergrund tritt.

Auch Kanada scheint dieser Gefahr rechtzeitig begegnen zu wollen. Ein Kriterium für Einwanderungswillige ist „keine Vorstrafen“…

… was natürlich mit sehr viel Fingerspitzengefühl anzufassen ist. Handlungen, die in einem Land unter Strafe stehen, können bei uns völlig legal sein. Dann ist der Betroffene natürlich wie jemand zu bewerten, der ohne Vorstrafen ist. Ich gebe hier nur ein Beispiel: In der Türkei können gegenwärtig kritische Äußerung über Präsident Erdoğan schnell dazu führen, dass der Kritiker im Gefängnis landet. Man wird also genau hinschauen müssen, um die Biographie der Antragsteller richtig zu lesen.

Ich möchte noch an einem weiteren Beispiel verdeutlichen, wo mit juristischen Fallstricken gerechnet werden muss. Ein innovatives deutsches Maschinenbau-Unternehmen entwickelt eine Möglichkeit der IT-basierten Fern- und Remotekontrolle seiner Maschinen beim Kunden im In- und Ausland. So wird die gelieferte Maschine optimal eingesetzt und bei sich anbahnenden Störungen kann spezielles Fachpersonal aus Deutschland sofort auf den Weg gebracht werden.

Bei amerikanischen Kunden geht das nicht, weil dort im ISA-Standard, dem Information Security Assessment, den das deutsche Unternehmen als Lieferant und Teil der Informationssicherheit erfüllen muss, ein Background-Check des eingesetzten Personals verlangt wird. Dieser Background-Check ist nach deutschem Recht für deutsche Beschäftigte nicht zulässig.

An diesem Punkt erscheint es mir angebracht, die Frage zu stellen: Wie werden diese Arbeitskräfte angeworben? Suchen sich große Unternehmen ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen im Ausland auf eigene Faust?

Ja natürlich. Die großen international agierenden Unternehmen sind hier klar im Vorteil. Sie besitzen über Jahre gewachsene Verbindungen zum jeweiligen Arbeitsmarkt und vor allem zu den Hochschulen und Universitäten. Große Unternehmen haben im Ausland oftmals auch einen eigenen Personalbereich. Darüber hinaus dienen spezielle Traineeprogramme der Bindung und Fortentwicklung von Fachkräften aus dem In- und Ausland. Solche Strukturen und Talentförderprogramme sind eigentlich bei großen Unternehmen Standard und bestehen schon sehr lange.

Wirklich Probleme haben kleine und mittlere Unternehmen oder die Startups, die über solche Voraussetzungen zur Mitarbeitergewinnung nicht verfügen. Die aber mitunter noch mehr auf solche Fachkräfte angewiesen sind.

Unter welchen Sicherheitskriterien kann dann die Mitarbeitergewinnung im Ausland stattfinden?

Hier kann ich aus den Strukturen meines ehemaligen Verantwortungsbereiches und aus den Sicherheitsbereichen meiner damaligen Netzwerkpartner anderer Unternehmen berichten.

Es gab keinen speziellen Bereich der sich etwa mit Sicherheitsfragen bei ausländischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt hat. Wer zu uns kam, der war vom ersten Tag an willkommenes Mitglied der Firmencommunity und für den galten auch die Sicherheitsregeln wie für alle anderen. Diese Regeln waren einheitlich – mit Ausnahme bestimmter länderspezifischen Bestimmungen – und sowohl in ihren Inhalten aber auch in ihren Konsequenzen bei Missachtung für jeden transparent.

Im Vordergrund stand immer die Grundannahme, dass jemand zu uns kommt, vom Unternehmen begeistert ist und es voran bringen- und ihm nicht schaden möchte.

Wenn ich ein Fazit aus unserem Gespräch ziehen darf, dann ist vor allem die Politik gefordert, den Rahmenbedingungen für eine Einwanderung im besprochenen Maßstab Rechnung zu tragen. 

Das wäre zu eng gedacht. Um die Aufgaben zu bewältigen und nicht die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, wäre es eine gute Sache, wenn die Behörden, die sich mit der Herausforderung beschäftigen mit der Wirtschaft zusammenarbeiten würden. Nur ein Programm aufzulegen und den KMUs dann mitzuteilen, man würde für sie alles Notwendige erledigen und die Unternehmen könnten sich dann aussuchen, wen sie eventuell gebrauchen könnten, so wird das nicht funktionieren.

Was ich präferiere ist, ein gezieltes Recruitment zum Beispiel über die Konsulate zu betreiben. Damit würden die Schlepper und Bauernfänger, die für ihr profitables Geschäft falsche Bilder von Deutschland zeichnen, erst gar keine Chance bekommen. Ein Vorbild hierfür können die Anwerbungsbüros der Kanadier sein, in denen Interessenten ihre Bewerbungsunterlagen einreichen können. Eine solche vorgelagerte Struktur bietet dann – um beim wesentlichen Knackpunkt dieses Themas zu bleiben – dem Sicherheitsaspekt ganz andere Möglichkeiten.

Alles in allem muss jedoch leider festhalten werden, dass die Voraussetzungen für eine Einwanderung dieser Dimension in Deutschland gar nicht oder nur sehr halbherzig gelöst sind. Deshalb ist es auch nicht zu verstehen, weshalb diese Problematik im zurückliegenden Wahlkampf praktisch keine Rolle gespielt hat.

 

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Peter Niggl

Peter Niggl, Journalist und Chefredakteur der Fachzeitschrift Security Insight