Einige Millihertz zum Blackout

Ein sicheres europäisches Stromnetz erfordert einen permanenten Informationsaustausch der Länder und einer permanenten Überwachung.

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25.03.2021

Können E-Autos tatsächlich das Stromnetz resilienter machen?

Es hätte im wörtlichen Sinne ein schwarzer Freitag werden können. Unisono hieß es anschließend, Europa sei haarscharf an einem Blackout vorbei geschrammt. Am Freitag, dem 8. Januar dieses Jahres, um 14.04 Uhr begann der größte Störfall im europäischen Stromnetz seit 2006.

Die Havarie, die den Südosten Europas betraf, hat beispielsweise auf dem Flughafen Wien-Schwechat dazu geführt, dass im IT-System Hardwareteile im Wert von mehreren hunderttausend Euro erneuert werden müssen. Die Folgen eines Blackouts, um ein zigfaches verstärkt durch die gegenwärtige Pandemie, lassen sich kaum ausmalen. Dennoch blieben in Deutschland Politik und Medien vergleichsweise wortkarg. Weit mehr beschäftigte man sich allerdings in Österreich mit dem Geschehen.

Kroatisches Umspannwerk Ernestinovo versagte den Dienst

Der Schriftsteller Marc Elsberg, übrigens auch ein Wiener, hat sich in seinem gründlich recherchierten Roman „Blackout – Morgen ist es zu spät“ sinnigerweise einen Freitag im Winter als Beginn seiner Geschichte gewählt. Elsberg entwirft ein Szenario, in dem ein Stromausfall ganz Westeuropa in Dunkelheit versinken lässt. Mit dem jüngsten Geschehen kann man den Eindruck gewinnen, die Realität hole die Fiktion ein.

Dem europäischen Stromnetz, das von Dänemark im Norden, Portugal, Italien und Griechenland im Süden, Frankreich und Portugal im Westen, Polen, Rumänien und Bulgarien im Osten reicht, drohte der Kollaps. Die Ursache für den Fast-Blackout erschließt sich in ihrer Dramatik wohl nur technisch Versierten: Ein plötzlicher Abfall der Netzfrequenz um 250 mHz. Zunächst war angenommen worden, der Leistungsabfall hätte seinen Ausgang in Rumänien genommen, tatsächlich aber versagte „das kroatische Umspannwerk Ernestinovo seinen Dienst und brachte das europäische Stromnetz an den Rand des Zusammenbruchs“ (FAZ). Ein Stromüberangebot in Südosteuropa habe dazu geführt, dass ein Schutzmechanismus Teile der kroatischen Anlage abschaltete. „Die Stromflüsse im Nordwesten und Südosten des Umspannwerks wurden damit getrennt“, so das Blatt. Griechenland, Bulgarien, Rumänien, Kroatien und die Türkei, die normalerweise über Leitungen an das kontinentaleuropäische Netz angebunden sind, seien in den „Inselbetrieb“ übergegangen, berichtete das Magazin „Focus“.

Große Abschaltungen in Frankreich und Italien

An diesem Tag gab es ungewöhnlich hohe Stromexporte aus Südosteuropa in den Westen, insbesondere nach Frankreich, Italien und Spanien. Insgesamt wurden rund 6.000 Megawatt exportiert. Die Kupplung in Ernestinovo war damit überlastet. In Frankreich und Italien haben Großverbraucher ihre Abnahme drosseln müssen, um das restliche Netz wieder zu stabilisieren. Frankreich hat Verbraucher einer Größenordnung von 1300 Megawatt vom Netz genommen. Auch Italien habe Industriekunden mit einer Leistungsabnahme von 1000 Megawatt abgeschaltet, erklärt Gerhard Christiner, technischer Vorstand der Austrian Power Grid AG.

„Die Situation hat sich kurz vor 16 Uhr wieder normalisiert“, beschwichtigte laut „Le Figaro“ das französische Netzwerk RTE. Dabei wurde ausdrücklich beteuert, dass der Vorfall nichts mit einem Aufruf zur Reduzierung des Stromverbrauchs zu tun habe, der am Abend vor dem Stromausfall veröffentlicht worden war. Der Störfall auf dem Balkan ereignete sich wenige Stunden nach dem der Netzbetreiber in Frankreich angesichts der relativ niedrigen Temperaturen die Bevölkerung mal wieder zum Stromsparen aufgefordert hatte, damit es nicht zum Blackout im Land kommt.

Im Lockdown konnten viele Wartungsarbeiten nicht vorgenommen werden.

Dass am Morgen des 8. Januar dieses Jahres in Frankreich ein Spitzenwert erreicht worden sei, liege an der Kälteperiode, schreibt die „Frankfurter Rundschau“ unter der Überschrift „Droht Frankreich ein Blackout?“ am Tag des Störfalls auf dem Balkan und ergänzt: „Die Temperaturen liegen in Frankreich derzeit vier bis fünf Grad unter dem Januarschnitt. Zugleich sinkt die Stromproduktion wegen der Coronakrise: Im Lockdown des vergangenen Frühlings konnten viele Wartungsarbeiten nicht vorgenommen werden. Das wirkt sich diesen Winter aus.“ Laut des großen Staatskonzerns Electricité de France (EDF) sind „gegenwärtig nur 44 der 56 Atomreaktoren in Betrieb; in den kommenden Wochen werden es deren 43 sein. Schon vor einigen Wochen hatte der Vorsteher von ‚Réseau de Transport d’Electricité‘ (RTE), Xavier Piechaczyk, einen ‚schwierigen Februar‘ vorhergesagt. Und das auch bei normalen Saisontemperaturen.“

Immer wieder gab und gibt es große Ausfälle in der Stromversorgung. Schwankungen im Stromnetz war am 31. März 2015 in der Türkei ein Blackout geschuldet. In 80 von 81 türkischen Provinzen fiel für rund acht Stunden der Strom aus, 76 Millionen Menschen waren betroffen. Der wirtschaftliche Gesamtschaden belief sich auf rund 700 Millionen Euro.

Einen Tag nach dem Fast-Blackout auf dem Balkan kam es am 9. Januar durch einen technischen Defekt am Guddu-Wärmekraftwerk in Südpakistan zu einem Stromausfall, der 200 Millionen Menschen betraf.

Politische Ränke gefährden Versorgung

Die geringen Frequenzschwankungen bei dem Vorfall auf dem Balkan waren in normalen Haushalten nicht zu spüren. Die dort eingesetzten Elektrogeräte reagieren nicht so empfindlich. Im März 2018 berichtete die „Neue Zürcher Zeitung“ unter der Überschrift „Warum Ihre Backofenuhr plötzlich nachgeht“ über eine Instabilität der Frequenz in der europäischen Stromversorgung, die auch zu erheblichen Abweichungen bei elektrischen Uhren führten. Nachdem der Verursacher zunächst nicht benannt worden war, meldete am 6. März 2018 der europäische Verband der Übertragungsnetzbetreiber ENTSO-E: „Die Leistungsabweichungen stammen aus der Regelzone Serbien, Mazedonien, Montenegro (SMM-Block) und speziell aus dem Kosovo und Serbien.“ Man arbeite mit Hochdruck daran, diese Unstimmigkeit zu beheben. Der Verband deutet in seiner Mitteilung zudem an, dass es neben technischen auch um politische Aspekte gehe, und drängt die Regierungen in Europa, sofortige Maßnahmen zu ergreifen. Dabei wird betont: „Die politischen Meinungsverschiedenheiten zwischen den serbischen und kosovarischen Behörden haben zu den beobachteten Stromausfällen geführt. Wenn keine Lösung auf politischer Ebene gefunden werden kann, könnte ein Umleitungsrisiko bestehen bleiben.“ Unschwer zu erkennen, wie schnell die Wirtschaft und alle anderen Stromkunden zum Spielball politischer Ränke werden können.

Politische Differenzen zwischen Serbien und dem Kosovo haben zu Stromausfällen
Geführt.

Vor allem die Unternehmen sind, wie sich auch jüngst wieder gezeigt hat, ein sensibler Bereich. Dort seien vielerorts bereits die Notstromaggregate angesprungen. Hätte die Netzfrequenz den Wert von 49 Hz unterschritten, wäre es zu automatischen Lastabwürfen – also der Trennung von Endverbrauchern von der Stromversorgung – gekommen. Nur das schnelle Zuführen von Leistungsreserven durch Zuschalten von schnell anlaufenden Gaskraftwerken hat hier wohl den Blackout verhindert. Georgios Stamatelopoulos, Vorsitzender des Energieerzeugerverbandes VGB PowerTech, sagte im Deutschlandfunk, dass durch zusätzliche Einspeisungen aus Skandinavien und Großbritannien die Unterversorgung noch ausgeglichen werden konnte.

Österreichische Energieversorger haben bereits vom Netz genommene Kraftwerke unter Vertrag, um Engpässe überbrücken zu können. Wie Gerhard Christiner in einem Interview bestätigte, kamen diese Anlagen in den vergangenen Jahren „jeden zweiten oder dritten Tag“ zum Einsatz.

„Ein deutlich gestörtes Leistungsgleichgewicht“

Im nordwesteuropäischen Netzteil hatte sich eine Leistungsunterdeckung ergeben, wodurch die Frequenz sehr rasch bis auf 49,746 Hz gesunken sei, erläutert Herbert Saurugg. Wie der Wiener Experte für die Vorbereitung auf den Ausfall lebenswichtiger Infrastrukturen erläuternd gegenüber der Presse hinzufügte, sei im südosteuropäischen Netz die Frequenz hingegen durch den Leistungsüberschuss auf bis zu 50,6 Hertz gestiegen. „In beiden Netzteilen zeigen die extremen Abweichungen von der Sollfrequenz ein deutlich gestörtes Leistungsgleichgewicht. Das kann in einem System, wo permanent die Balance zwischen Verbrauch und Erzeugung sichergestellt werden muss, zu weitreichenden Kaskadeneffekten führen“, wird Saurugg zitiert. Auf den Kaskadeneffekt, oft auch Schneeballeffekt genannt, verweisen Fachleute immer wieder. Er besagt, dass es nur eines kleinen Auslösers bedarf, um am Ende zur großen Katastrophe zu führen. Saurugg hatte schon im Sommer 2018 in einem Interview in SECURITY insight gewarnt, „dass wir die nächsten fünf Jahre nicht unbeschadet überleben werden.“ Nach dem jüngsten Vorfall hat auch die österreichische Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) am 16. Januar betont, dass es in den kommenden fünf Jahren zu einem länger andauernden Stromausfall großer Netze in Österreich kommt, „dafür liege die Wahrscheinlichkeit bei einhundert Prozent.“

Deutschland als Insel der Glückseligen?

Der Vorfall im europäischen Südosten sei der zweite großflächige Beinahe-Blackout innerhalb von zwei Jahren, vermerkt das „Handelsblatt“. Schon im Sommer 2019 sei es an gleich drei Tagen kritisch gewesen, so das Blatt. Auch damals habe es im deutschen Netz zeitweise zu wenig Strom gegeben, um die nötige Frequenz von 50 Hertz konstant zu halten. Beide Male konnte ein Totalausfall allerdings abgewendet werden – wenn auch nur knapp.

Angesichts der Pandemie, die gegenwärtig das Leben in Europa (und darüber hinaus) diktiert, lässt sich auch ohne komplizierte Rechenbeispiele absehen, in welchem Maße sich die katastrophalen Folgen eines Blackouts im gegenwärtigen Ausnahmezustand potenzieren würden. Allein die Leistungsreduzierung in den Krankenhäusern würden mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Hunderten oder gar Tausenden zusätzlichen Toten binnen kürzester Zeit führen. Betroffen wären in erster Linie die intensivmedizinischen Abteilungen, wo vor allem Corona-Patienten künstlich beatmet werden. Schon vor gut einem Jahr hat das TV-Magazin „SWR odysso“ die Folgen für Krankenhäuser ausgemalt. „Geht der Blackout länger als acht Stunden und ist kein Ende absehbar, schränken die Kliniken ihren Stromverbrauch weiter ein. Möglichst viele Patienten werden nun entlassen, die restlichen werden räumlich möglichst dicht konzentriert. Gleichzeitig wird der Zustrom an Patienten aber nicht nachlassen, da Arztpraxen und Apotheken weitgehend schließen müssen. Außerdem verfügen Altenheime und Dialysezentren nur selten über eine Notstromversorgung. Alle Patienten, die eigentlich dort versorgt werden, sind nun ebenfalls auf ein Krankenhaus angewiesen.“

Das Konzept Vehicle-to-Grid, kurz V2G, soll E-Autos in die Stromnetze einbinden.

Die mögliche Korrelation einer Pandemie und eines großflächigen Stromausfalls hat die Bundesregierung schon 2011 festgeschrieben. Im Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung vom 27. April 2011 heißt es: „Eine Pandemie bedingt einen extrem hohen Krankenstand; Mitarbeiter bleiben zuhause, um ihre Angehörigen zu pflegen. Auch hier ist in der Folge ein länger dauernder Stromausfall möglich.“

„Blackout in der Landwirtschaft – Die Katastrophe“, schreibt das Webportal „agrarheute“ angesichts des jüngsten Vorfalls und beruft sich auf Thomas Petermann vom Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) und Mitautor des „Was bei einem Blackout geschieht.“ Petermanns Einschätzung: „Aufgrund der nahezu vollständigen Durchdringung der Lebens- und Arbeitswelt mit elektrisch betriebenen Geräten würden sich die Folgen eines langandauernden und großflächigen Stromausfalls zu einer Schadenslage von besonderer Qualität summieren. Betroffen wären alle kritischen Infrastrukturen, und ein Kollaps der gesamten Gesellschaft wäre kaum zu verhindern.“

Die E-Autos als Stabilisator

Das entscheidende Problem und zugleich die größte Gefahr für die Stabilität der Energieversorgung liegt darin, dass es bisher keine effektive Möglichkeit gibt, Strom zu speichern. Österreich kann die Alpen nutzen. Wasser wird in Zeiten überschüssiger Energie in hochgelegene Reservoirs gepumpt, um sie bei Versorgungsengpässen für die Stromerzeugung nutzen zu können. Ein anderes Speichermodell zielt auf die künftige Elektromobilität. Die Batterien der künftigen E-Autos als Energiereserve. Das Konzept heißt Vehicle-to-Grid, kurz V2G (vom Fahrzeug zum Netz), und soll E-Autos in die Stromnetze einbinden. Die Batterien der Fahrzeuge sollen nicht nur zum Fahren Strom aufnehmen, sondern auch diese Energie im Bedarfsfall vom Netz wieder abgerufen werden können. Das Ganze erfordert allerdings eine hohe Dichte an E-Autos und ebenso an Zapfsäulen, an denen die Fahrzeuge permanent zur Verfügung gehalten werden.

Der Automobilhersteller Fiat Chrysler Automobiles (FCA), der Technologiekonzern ENGIE EPS und der italienische Stromnetzbetreiber Terna haben im September vergangenen Jahres in Turin ein Pilotprojekt zur V2G-Technologie eingeweiht. Mit der Anlage, die nach Fertigstellung als die größte ihrer Art gedacht ist, soll das Zusammenwirken zwischen elektrisch betriebenen Fahrzeugen und dem öffentlichen Stromnetz erforscht werden. Aber das ist alles noch Zukunftsmusik.

Angesichts des suboptimalen Krisenmanagements der Bundesregierung in der gegenwärtigen Pandemie bleibt nur zu hoffen, dass nicht noch ein Blackout das Schreckensszenario komplettiert.

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Über den Autor: Peter Niggl

Peter Niggl, Journalist und Chefredakteur der Fachzeitschrift Security Insight