Es müssen Produktionsstandorte in Europa gesichert werden!

Im Spitzengespräch mit Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery, Vorstandsvorsitzender des Weltärztebundes

Lesezeit: 8 Min.

07.08.2020

Mit Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery, Vorstandsvorsitzender des Weltärztebundes, sprach Peter Niggl

Herr Prof. Montgomery, noch ist die gegenwärtige Pandemie nicht überwunden, aber versuchen Sie doch bitte einmal, ein Blick nach vorne zu werfen. Was wird sich ändern?

Auf der einen Seite wird im Verhältnis der Menschen zueinander aus dem Social Distancing ein Physical Distancing werden. Zum Beispiel wird das Händeschütteln von anderen Formen der Begrüßung, wie es auch in anderen Ländern längst üblich ist, zunehmend abgelöst werden. In Einrichtungen, die wir gemeinsam besuchen, wie Restaurants, Kinos oder Sportcenter usw. werden wir uns an Hygienemaßnahmen gewöhnen müssen, wie Desinfektion oder vernünftige Masken zu tragen. Medizinisch wird man überlegen müssen, wie man die Pandemiepläne neugestaltet. Wir haben ja gemerkt, dass wir in der Vorratshaltung von grundsätzlichen Dingen durch das ökonomische Ausquetschen der Krankenhäuser und der Arztpraxen in der letzten Zeit zu wenig Vorräte hatten. Wir müssen überlegen, ob wir nicht nationale Vorratsreserven für gewisse Dinge wie Masken, Handschuhe oder Kittel und dergleichen anlegen müssen. Aber auch bei den Medikamenten stellen wir zunehmend fest – damit bin ich bei der dritten und übergreifenden Sache – dass die Konzepte von Globalisierung und Just-in-Time-Lieferketten zum Einsparen von Vorratshaltung, durch die Auswirkungen der Pandemie deutlich hinterfragt wurden. Es hat sich gezeigt, wie fragil die Auslagerung der Produktion und der damit verbundenen Lieferketten in Billiglohnländer sein können.

Werden sich solche Veränderungen unter dem Prinzip der Gewinnmaximierung erreichen lassen?

Das Prinzip der Gewinnmaximierung ist an sich keine schlechte Triebfeder. Damit sind wir bisher gut gefahren. Ich bin sehr dafür, für die Menschen Anreize zu schaffen statt sie zu bestrafen oder zu kontrollieren. Wenn die Anreize stimmen, funktioniert der Mensch besser. Man merkte das in einem Land wie Deutschland, in dem man die Menschen mitgenommen hat für die notwendigen Maßnahmen. Hier gab es ja relativ wenig einschränkende Maßnahmen. Zumindest im Verhältnis zu anderen Ländern mit relativ hohen Todeszahlen, hatten wir ja vergleichsweise milde Einschränkungen. Wir müssen die Menschen durch Information, Aufklärung und Eigenverantwortung dazu bringen, die notwendigen Schritte zu machen. Die Menschen sind oft recht hilflos einer widerspruchsvollen Informationsflut ausgesetzt. Wie kann dem begegnet werden? Das ist nicht nur in Zeiten der Pandemie ein Problem. In der WHO – der Weltgesundheitsorganisation – reden wir seit langem über sogenannte health literacy, also die Menschen in die Lage zu versetzen, medizinische Informationen selbst zu verstehen und zu bewerten. Es ist leider heute angesichts des Internets und der vielen falschen Propheten, die sich überall tummeln, nicht mehr möglich, eine allgemein gültige Wahrheit zu vermitteln. Die Bürger haben ein breites Informationsangebot und wir haben heute Menschen, die, zum Teil aus sehr üblen Motiven, zum Teil aus fehlgeleiteten, irrigen Motiven, eine Fülle von Fehlinformationen in die Welt setzen. Wenn man sich allein in der Gegenwart anschaut, was über Masken oder Impfpflicht durch die Welt geistert, dann ist es einfach irre. Wie soll sich ein normaler Mensch, der keinen wissenschaftlichen Hintergrund besitzt, daraus selbst eine Meinung bilden? Das müssen wir üben! Ich sehe jetzt schon die nächste Debatte auf uns zukommen: Wenn wir denn einen Impfstoff haben, wird es eine heftige Debatte darum geben, wer sich impfen lässt und ob es eine Impfpflicht geben muss. Ich erinnere daran, dass bei der Schweinegrippe nach der Herstellung des Impfstoffes, unser größtes Problem die Verbrennung desselben war, weil nur 41 Prozent der Deutschen sich hatte impfen lassen. Daran müssen wir arbeiten, dass so etwas nicht wieder passiert. Was im Moment gerade an Fehlinformationen und Wutdiskussionen über uns hereinschwappt, ist aus wissenschaftlicher, besonders medizinischer Sicht geradezu absurd.

Sie haben in Sachen Pandemiebekämpfung schon mal die deutsche „Kleinstaaterei“ kritisiert…

… weil, wie ich glaube, dass der Verlauf in Deutschland noch besser hätte sein können. Auf dem Höhepunkt des Lockdowns waren in Mecklenburg-Vorpommern alle Baumärkte geschlossen und in Brandenburg geöffnet. Deshalb wurden die brandenburgischen Baumärkte mit Kunden aus Mecklenburg-Vorpommern überflutet. Das ist sicher nur ein kleines Beispiel, aber solche gibt es ganz viele. Kein Mensch weiß mehr, was in welchem Bundesland gilt. Die Hamburger durften bei Androhung eines Bußgeldes nicht über die Landesgrenze nach Schleswig-Holstein. Unser Spaziergang über den Deich von Blankenese nach Haseldorf fiel flach, das ist absurd. So etwas ist den Leuten nicht zu verkaufen. Besser wäre es gewesen, bundeseinheitliche Richtlinien zu erstellen. Das soll nicht heißen, dass in einem Landkreis der zu einem Hotspot wird, nicht regional andere Einschränkungen gelten müssen.

Natürlich wird ein lokales Gesundheitsamt die Maßnahmen umsetzen müssen, nur das muss nicht im Schönheitswettbewerb von Herrn Söder und Herrn Laschet, sondern in einer bundeseinheitlichen Verantwortung stehen.

Der erste Fall einer Covid-19-Infektion wurde bekanntlich bei einem Autozulieferer in Bayern festgestellt. Übertragen durch eine chinesische Mitarbeiterin. Also ein Problem der Globalisierung?

Ja, ich sehe das mit der Globalisierung auch kritisch, wir müssen da vieles neu denken, das ist völlig richtig. Aber gleichzeitig ist dieser Fall das beste Beispiel, wie lokale Seuchenbegrenzung funktionieren kann. Dort ist es noch gelungen, den Patienten null zu finden, zu identifizieren und alle seine Kontakte zu isolieren. Gefährlich wurde es erst mit den Skifahrern aus Österreich und Italien. Hier geht es nicht um Globalisierung. In Österreich, in Ischgl hat man ja grotesk versagt. Dort gab es Hinweise auf den Infektionsherd, die man nicht wahrhaben wollte, weil man dem Saisongeschäft Skilaufen nicht schaden wollte.

Also Wirtschaftsinteressen contra medizinische Notwendigkeiten?

Ja, das erleben wir. Am Anfang der Pandemie hat man die medizinischen Belange aus wirtschaftlichen Überlegungen beiseitegeschoben. Als die Zahlen der Infizierten explodierten, wurde das Ökonomische etwas zurückgestellt. Wir haben dann mal sechs oder sieben Wochen nichts von den ökonomischen Problemen gehört. Als dann die Leute aufwachten und auch die Zahlen langsam wieder runter gingen, wobei es aber noch lange nicht gut ist, fing man wieder an, über das Ökonomische zu reden. Dieses Wechselspiel werden wir in einer Demokratie immer erleben, das halte ich für völlig normal.

Nochmal zur Globalisierung: Ist das kein Thema für die Medizin?

Doch. Wir haben seit Jahren in Brüssel ein Kampf gegen Windmühlen geführt, weil wir gesagt haben, es kann nicht alles auf das Prinzip des billigsten Rohstoff-Produzenten ausgerichtet sein. Die EU, die übrigens hier völlig versagt hat, muss entweder Stockpiling betreiben, vergleichsweise dem, was meine Generation noch als die Bundeswehrreserve von früher kennt. Es muss einen Katastrophenvorhalt auch für Medikamente geben. Oder aber, es müssen Produktionsstandorte in Europa gesichert beziehungsweise Produktionsverträge mit Ländern abgeschlossen werden, bei denen die Transportwege nicht so einfach zu unterbrechen sind. Ich denke, diese Diskussion wird jetzt erweitert um ganz einfache medizinische Hilfsmittel wie zum Beispiel Masken, Kittel oder Handschuhe. Das wird in nächster Zeit geschehen müssen, wenn wir nicht irgendwann die Chance verpassen wollen. Da sind wir also wieder bei Problemen der Globalisierung.

Wie allgemein oder konkret müssen Regelungen im Falle einer Pandemie sein?

Die Regelungen mit den 800 Quadratmetern Verkaufsfläche, waren zum Beispiel das Ergebnis eines Kuhhandels, wie auf einem türkischen Basar. Die Kanzlerin hatte 400 Quadratmeter vorgeschlagen, einige Ministerpräsidenten haben dagegengehalten, schließlich hat man sich auf 800 Quadratmeter geeinigt. Es gibt keine wissenschaftliche oder medizinische Herleitung für diese 800 Quadratmeter-Regelung. Genau das zeigt eigentlich, wie idiotisch das Ganze ist.

Neue Aufgabenfelder für die Gesundheitsämter?

Auf die Gesundheitsämter werden neue Aufgaben zukommen. Da wird es vor allen Dingen um die Einhaltung der Hygienevorschriften gehen, das lässt sich nicht immer in Quadratmetern bemessen. Das sind vielmehr Fragen von Abständen, wie viele Menschen dürfen an einem Tisch sitzen, wie weit müssen Tische auseinandergestellt sein oder wie sind Eingänge organisiert. Ganz einfaches Beispiel: Eine der häufigsten Infektionsquellen sind Türklinken. Wir werden also in Zukunft mehr Geschäfte mit Automatiktüren haben. Solche Aufgaben und Anforderungen durchzusetzen, wird in Zukunft die Tätigkeit der Gesundheitsämter oder Gewerbeaufsichtsämter bestimmen. Hier werden wir weiterdenken müssen, als wir es heute tun. Nun sind wir in Deutschland mit unserem Sozialversicherungssystem gut aufgestellt; bei uns sind die Beschäftigten durch Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder aber auch das Kurzarbeitergeld relativ gut abgesichert, aber es gibt Länder, in denen das nicht so ist, wie zum Beispiel den USA. Dort gehen immer noch Leute zur Arbeit, auch wenn sie bereits Krankheitssymptome aufweisen, weil es keine entsprechende soziale Absicherung im Krankheitsfall gibt. Das ist bei einer Pandemie natürlich nicht akzeptabel und hat im Endeffekt auch Auswirkung auf uns.

Fehlen Pandemiepläne?

Die große Studie der Bundesregierung von 2012 zum Problem einer Pandemie hat Mängel sichtbar gemacht und wir haben nachgebessert. Die Bundesärztekammer, der ich lange vorgestanden habe, war daran beteiligt. Trotzdem ist man nie davor gefeit, etwas zu übersehen oder falsch einzuschätzen. Diesmal hat man den Teil Personal Protective Equipment – damit ist der Bereich der Schutzausrüstung gemeint – komplett falsch eingeschätzt.

Der Feldherr Clausewitz hat einmal gesagt: Angesichts der ersten Feindberührung ist jede Strategie Makulatur! Damit hat er völlig recht. Pandemie ist immer Chaos, da würde ich keine Schuldzuweisungen üben. Ich bin überzeugt, bei der nächsten Pandemie wird irgendwas anderes in die Hose gehen. Das ist einfach völlig normal.

Prof. Dr. Frank Ulrich Montgomery ist Vorstandsvorsitzender des Weltärztebundes, Präsident des Ständigen Ausschusses der Ärzte der EU (CPME) und Ehren-Präsident der Bundesärztekammer

Foto: picture alliance/Tobias Hase für Deutsches Ärzteblatt

 

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Über den Autor: Redaktion Prosecurity

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