Hupen und morden – Hitze macht aggressiv
Macht uns die Hitze aggressiv? Eine Frage die durchaus berechtigt scheint, wohl aber mehr die Medien als die Medizin beschäftigt.
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13.09.2023
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse scheinen mehr als diffus
Macht uns die Hitze aggressiv? Eine Frage die durchaus berechtigt scheint, wohl aber mehr die Medien als die Medizin beschäftigt. Also nur heiße Luft im „Sommerloch“? Macht die Hitze jeden aggressiv(er)? Es lohnt sich, angesichts der immer häufiger auftretenden Hitzewellen, die inzwischen sogar die Politik erfasst haben, genauer hinzusehen. Denn, so gewisse Studien, die Hitze verändert auch das Verhalten von Sicherheitskräften.
Mit den Temperaturen steige – wie das Magazin „GEO“ im Juli mit Wissenschaftlichkeit suggerierendem Unterton vermeldete – „auch die Wahrscheinlichkeit, getötet zu werden.“ Die Begründung, die dann postwendend geliefert wird, mag vielleicht auf den ersten Blick einleuchtend erscheinen: „Wer nach Belegen sucht, dass flirrende Hitze und gesteigerte Aggressivität aufs Engste miteinander verknüpft sind, findet sie in Warteschlangen vor dem Freibad, im dichten Feierabendverkehr, bei Rangeleien auf Bolzplätzen. Überall dort, so der Eindruck, zeigen sich Menschen umso feindseliger, unsozialer, reizbarer, je mehr Schweißtropfen ihnen in die Brauen rinnen und je auswegloser die Sonne auf ihr Haupt brennt.“ Tötungsdelikte und Gerangel im Freibad in einem Atemzug zu nennen, ist jedoch mehr als kühn.
Keine Forschungsvorhaben an der Polizeihochschule
Der Einfluss heißer Sommertage auf die Gemütsverfassung von Menschen ist ein ernsthaftes Thema für alle, die mit Sicherheit betraut sind und auf emotionale Eruptionen gefasst sein müssen. Deshalb ist ein genaueres Hinsehen geboten.
Schließlich verweist auch der GEO-Autor darauf, dass es so einfach nicht ist. Letztlich ließe sich, wie er einräumt, „selten ein unmittelbarer Kausalzusammenhang zwischen Wetter- und Verbrechenslage herstellen“, denn „zu vielschichtig ist das menschliche Verhalten in Konfliktsituationen.“ Aber, davon zeigt sich der Verfasser dann doch überzeugt, „dass Hitze ein Faktor sein kann, wenn Täter die Beherrschung verlieren“, darüber seien „sich Forschende weitgehend einig“. Dies zeige „sich ziemlich verlässlich in vielen Kriminalstatistiken.“
Auf die „vielen Kriminalstatistiken“ wird noch einzugehen sein. Soviel vorweg: Recht unaufgeregt zeigt man sich bei diesem Thema an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster-Hiltrup. Eine Anfrage von SECURITY INSIGHT, wie es um die kriminologische Aufarbeitung dieses Thema an der führenden Polizeihochschule bestellt sei, beantwortete die Leiterin des dortigen Promotionsbüro, Dr. Mechthild Hauff, kurz und knapp: An der Polizeihochschule „werden aktuell keine Forschungsvorhaben zu dem Thema Aggression und Hitze durchgeführt.“ An der wichtigsten Bildungsstätte der deutschen Polizei bekommt man also bei diesem Thema nicht sofort Schnappatmung.
Ganz sicher ist, dass ein Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik allein keine wissenschaftlichen Aufschlüsse und belastbaren Daten dafür liefert. Ein wesentlicher Aspekt wissenschaftlicher Analysen sind Vergleichswerte. Wenn man „Warteschlangen vor dem Freibad“ als Ort erhöhter Aggression und Gewalt während sommerlicher Hitze anführt, kann man kaum als Vergleichswert das Verhalten der Menschen im Winter in den Warteschlangen vor dem Freibad heranziehen. Hier gilt vielleicht die ganz unwissenschaftliche Formel: Je heißer die Tage, umso mehr Menschen drängen ins Freibad, damit nehmen die Reibungsflächen zu, an denen sich Konflikte entzünden.
Bisweilen wird aber auch auf der Hitzewelle das eigene (manchmal sogar recht unappetitliche) Süppchen gekocht. „Die Politik kneift in der Diskussion über das, was in Berliner Freibädern und Parks los ist. Es ist an der Zeit, nach den Gründen zu suchen“, hieß es im Berliner „Tagesspiegel“ Mitte Juli, als die Hauptstadt gerade unter drückender Hitze stöhnte. Ob sich dabei allerdings jemand für die Argumentation des Blattes erwärmen konnte, muss dahingestellt bleiben. „Zum Gewaltproblem dieser Gesellschaft gehört, dass man Gefahr läuft, Rassist genannt zu werden, wenn man darauf hinweist, dass es besonders oft junge Männer aus türkischen und arabischen Familien sind, die mit machistischer Gewaltbereitschaft protzen“, meint der Verfasser des Artikels, um dann mit einem Vergleich seine Beweisführung zu untermauern: „Gewiss, das sind die größten Gruppen mit Migrationshintergrund in der Stadt. Aber das erklärt ihre – im Vergleich zu den Ukrainern hier oder den Vietnamesen – auffällige Aggressivität nicht.“
Vehikel für Vorurteile?
Wieso werden hier die Ukrainer herangezogen, die in großer Zahl erst seit Kriegsbeginn vor rund eineinhalb Jahren nach Berlin kommen? Soll hier – politisch relativ durchsichtig – zwischen guten und schlechten Kriegsflüchtlingen unterschieden werden? Und bei den Vietnamesen? Ein Blick in den „Tagesspiegel“ von 24. Mai 1996 frischt unser Gedächtnis auf. „Die Welle der Gewalt unter Vietnamesen ist ungebrochen“, hieß es damals, als nach der quasi-Exekution an sechs Mitgliedern der „Quang-Bien-Bande“ und weitere Morde im Zigarettenschmuggler-Milieu folgten.
Gehen wir noch ein paar Jahrzehnte weiter zurück, in die Frühphase der sogenannten Gastarbeiter-Anwerbung. Laut einer Repräsentativumfrage des Instituts für angewandte Sozialwissenschaften in Bad Godesberg – welche Anfang Oktober 1966 veröffentlicht wurde – „kritisierten“ mehr als 40 Prozent der Befragten, „dass die Gastarbeiter mit ihrem Feierabend nichts anzufangen wüssten oder bei jeder Gelegenheit Messerstechereien und Schlägereien anfingen.“[1] War die Hitze daran schuld? Wohl kaum. Der Sommer 1966 war ungewöhnlich kühl und regnerisch. In dieser Umfrage spiegeln sich wohl in erster Linie stereotype Vorurteile wider, weniger belegbare Fakten.
Internationale Forschungen
Schon seit vielen Jahren wird in verschiedenen Ländern über Auswirkungen von Hitze auf das Verhalten geforscht. So berichtete das Wissenschaftsmagazin „Spektrum.de“ im August 2018 über eine mehr als zwanzig Jahre alte Studie aus den USA. Darin war im Frühjahr und im Sommer in Phoenix, Arizona, untersucht worden, wie Autofahrer reagieren, wenn der vor ihnen an der Ampel wartende Fahrzeuglenker die Grünphase „verschläft“. Phoenix, das muss erwähnt werden, erreicht in der heißen Jahreszeit Temperaturen über 40° Celsius. Die Ergebnisse zeigten einen direkten linearen Anstieg des Hupens mit steigender Temperatur. Noch eindeutigere Ergebnisse wurden erzielt, als man nur die Probanden unter die Lupe nahm, die ihre Fenster heruntergekurbelt hatten und vermutlich über keine Klimaanlage im Fahrzeug verfügten. Auch dieser Studie mangelt es an notwendigen Vergleichen. Sind Personen, die besonders heftig die Hupe strapazieren, auch in anderen Situationen bei steigenden Temperaturen anfälliger für Aggressionshandlungen oder haben sie nur keine Lust, in ihrer Blechbüchse unnötig gegart zu werden?
„Für sich genommen ist dieser Effekt jedoch gering…“
Durchaus abwägend nahm sich die „Berliner Morgenpost“ im Juni 2019 des Themas an. „Es sei offensichtlich“, so das Blatt, „dass schnelle Klimaerwärmung mehr Gelegenheiten für aggressive und gewalttätige Situationen schaffe.“ Das zumindest schrieben Autoren um den US-Psychologieprofessor und Gewaltforscher Craig A. Anderson (Iowa State University) in einer Studie, die im Februar jenes Jahres veröffentlicht wurde. Seit Jahrzehnten beschäftigten sich amerikanische Experten mit dem Thema – so die „Morgenpost“ – denn „lange, heiße und auch mit Gewalt einhergehende Sommer sind dort nichts Neues. Sie stellten entsprechende Experimente an und werteten Kriminalitätsraten nach Regionen und Jahren aus.“
Ein Grad Celsius Anstieg = 25.000 Tote
Hitzestress führe zu einer Zunahme von Gewalt und Aggression, dies sei durch solche Studien belegt, schrieb Anderson im Fachblatt „Current Climate Change Reports“. Anderson bezieht sich unter anderem auf eine frühere Studie, der zufolge mit jedem Grad Celsius Klimaerwärmung die Mordraten um sechs Prozent zunehmen könnten. Dieser Annahme lägen Daten aus 60 Ländern zugrunde. Das düstere Fazit wird in der „Morgenpost“ wiedergegeben: „Für die USA sei eine Untersuchung zum Schluss gekommen, dass eine Temperaturzunahme von gut einem Grad Celsius zu 25.000 mehr Fällen von schweren bis hin zu tödlichen Angriffen führe.“
Ins selbe Horn stieß die „Washington Post“ im Juli 2019, als sie auf eine Studie verwies, die vom National Bureau of Economic Research veröffentlicht worden war. Diese untersuchte die Beziehung zwischen den täglichen hohen Temperaturen und den Gewaltverbrechen in Los Angeles zwischen 2010 und 2017. „Kriminologen wissen schon seit Jahrzehnten“, so die „Washington Post“, „dass Morde und andere Gewaltverbrechen in den heißen Sommermonaten häufiger vorkommen.“
Aber zurück zu den Ausführungen der „Berliner Morgenpost“. Die Zeitung lässt auch andere, weniger aufgeregte Stimmen zu Wort kommen. Unter dem Strich sei die Datenlage uneindeutig, zitiert das Blatt Andreas Zick, Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Uni Bielefeld und gibt seine abwägenden Worte wieder: „Dass Hitze einen Effekt habe, sei unumstritten. Für sich genommen sei dieser Effekt jedoch gering, man müsse immer in Wechselwirkungen denken, betont der Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Uni Bielefeld. Er nennt Hitze aber durchaus einen ‚Verstärker‘ in bestimmten Stimmungslagen.“
Bei geringer Bildung gefährdeter
Inzwischen häufen sich die Untersuchungen, die sich mit den potenziellen Auswirkungen steigender Temperaturen auf Veränderungen im menschlichen Verhalten beschäftigen. „The Yale Journal of Biology and Medicine“ veröffentlichte im Juni dieses Jahres das Ergebnis einer Studie, in der der Zusammenhang zwischen Umgebungstemperatur und Aggression anhand von Daten über Todesfälle durch Körperverletzung in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul, Südkorea, in den Jahren 1991 bis 2020 untersucht worden ist. Quintessenz: „Das Gesamtrisiko für Todesfälle durch Körperverletzung stieg signifikant um 1,4 % pro 1°C Anstieg der Umgebungstemperatur.“ Das Risiko hierbei Opfer zu werden, sei bei „Männern, Jugendlichen und Personen mit geringer Bildung höher“ gewesen. Diese Feststellung kann als Indikator gesehen werden, dass erhöhte Temperaturen nicht alle Menschen gleichermaßen beeinflusst. Es scheinen Bevölkerungsteile und -schichten, die von vorneherein ein höheres Aggressionspotenzial aufweisen, bei erhöhten Temperaturen noch schneller „aus sich herausgehen“.
Was die Sicherheit betrifft, so weist Südkorea eine niedrigere Kriminalitäts-, Mord- und Schusswaffenrate auf als andere Länder mit hohem Einkommen. Nach Angaben des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) lag die Rate der vorsätzlichen Tötungsdelikte in Südkorea im Jahr 2018 bei 0,7 pro 100.000 Einwohner und damit unter dem weltweiten Durchschnitt von 6,1 pro 100.000 Einwohner. Darüber hinaus ist die Schusswaffentötungsrate in Südkorea mit 0,0005 pro 100.000 Menschen eine der niedrigsten der Welt.
Auch Profis verlieren eher die Selbstbeherrschung
Tatsache ist, dass auch Profis, deren Beruf es ist, sich mit aggressivem Verhalten auseinanderzusetzen, bei steigenden Temperaturen teilweise die Selbstbeherrschung einbüßen. „In den USA bekriegen sich Gangs an heißen Tagen stärker, auch die Gewaltbereitschaft ist höher. Studien belegen sogar, dass in den USA selbst Polizisten eher bereit sind, die Waffe zu ziehen“, zitiert der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) den Professor der Sozialpsychologie der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, Hans-Peter Erb.
Sein niederländischer Kollege Aldert Vrij, der inzwischen in London lehrt, hat schon vor rund drei Jahrzehnten in einer Studie belegt, dass hohe Temperaturen auch handfeste Auswirkungen haben können. Die Forscher luden, wie dem bereits erwähnten Bericht von Spektrum.de zu entnehmen ist, rund vierzig Polizisten zu Versuchen ins Labor. Sie sollten auf eine Bedrohung reagieren, die mittels eines Computers dargestellt wurde. Darin sahen sich die Beamten mit einem aggressiven Mann konfrontiert, der sie mit einer Brechstange bedrohte. Die Testpersonen trugen eine „Dienstwaffe“ am Gürtel, die statt mit scharfer Munition mit einem Laserstrahl ausgestattet war. Die Raumtemperatur war allerdings nicht für alle Versuchsteilnehmer gleich. Die Hälfte absolvierte ihre Übung bei recht erträglichen 21 Grad Celsius, während die übrigen bei deutlich schwerer zu ertragenden 27 Grad schwitzen mussten. Das Ergebnis ist ernüchternd: Bei „normaler“ Temperatur benutzten 45 Prozent der Testpersonen ihre Waffe. Im aufgeheizten Raum taten das hingegen mehr als 60 Prozent der Beamten.
Sogar im Bereich jener Aggressionsakte die dem Terrorismus zugeordnet werden, haben Forscher klimatische Einflüsse ausmachen können. Allerdings dürfte hier weniger das Befinden des Täters ausschlaggebend sein, als objektive Umstände. In dem bereits erwähnten Artikel der „Washington Post“ wird auf eine Studie verwiesen, die in Fachzeitschrift „Studies in Conflict & Terrorism“ veröffentlicht wurde.
Darin wird ein „signifikanter“ Zusammenhang zwischen hohen Temperaturen und Terroranschlägen und Todesopfern in 159 Ländern zwischen 1970 und 2015 festgestellt. Die Forscher kontrollierten, ob die Anschläge in den Sommermonaten stattfanden, da sie davon ausgingen, dass Menschenmassen von Urlaubern unabhängig vom Wetter ein attraktives Ziel für Terroristen sein könnten.
Sie stellten fest, dass Terroranschläge nicht nur häufiger an heißen Tagen verübt wurden, sondern dass auch die Zahl der Todesopfer pro Anschlag höher war. Ihre Forschung liefere „vorläufige Beweise für die Temperatur-Aggressions-Hypothese im Zusammenhang mit Terrorismus“, schreiben die Autoren, „und bestätige konzeptionell frühere Forschungen, die einen Zusammenhang zwischen Hitze und gruppenübergreifender Gewalt zeigen“. Die Analyse beruht auf Zahlenmaterial der „Global Terrorism Database“ (GTD), einer von Forschern der University of Maryland entwickelten Open-Source-Datenbank, die Informationen über terroristische Ereignisse in der ganzen Welt von 1970 bis 2020 enthält. Die GTD erfasst systematische Daten zu nationalen und internationalen terroristischen Vorfällen, die sich in diesem Zeitraum ereignet haben, und umfasst inzwischen mehr als 200.000 Fälle.
Fazit: Das Thema „Aggression bei großer Hitze“ ist so weit gefächert, dass es eine allgemeingültige Formel zum Umgang mit der Herausforderung nicht geben kann. Von Hup-Junkies über Randalierer in Freibädern, über Menschen, die anderen nach dem Leben trachten bis zu Terroristen reicht also die Bandbreite. Für Menschen, die unter den erschwerten Bedingungen der Klimaerwärmung für die Sicherheit anderer sorgen, gibt es wohl nur die Möglichkeit, sich der steigenden Gefahren bewusst zu sein (oder zu werden), um auf die unterschiedlichen Situationen angemessen reagieren zu können. Behörden und privatwirtschaftliche Unternehmen sind gefordert, entsprechende Konzepte zu entwickeln, die ihre Mitarbeiter dazu befähigen. Denn eines scheint klar: Auch wenn es mit allgemeinen Prognosen schwierig ist – die klimatische Erwärmung ist eine Tatsache.
[1] zit. n. „Honnefer Volkszeitung“, 4. Oktober 1966