Versprochene Hilfe, die nicht ankommt

Wer in Deutschland Opfer einer Gewalttat wird, erhält Unterstützung vom Staat, so verspricht es das Opferentschädigungsgesetz (OEG) in der Theorie

Lesezeit: 9 Min.

09.09.2022

Wer in Deutschland Opfer einer Gewalttat wird, erhält Unterstützung vom Staat, so verspricht es das Opferentschädigungsgesetz (OEG) in der Theorie. In der Praxis bleibt es jedoch häufig beim Versprechen, denn die Hilfe kommt nur bei wenigen Betroffenen an, wie eine aktuelle Analyse des WEISSEN RINGS zeigt.

Die Probleme beginnen damit, dass das Gesetz weitgehend unbekannt ist und entsprechend wenige Anträge gestellt werden, und sie setzen sich fort, weil die zuständigen Behörden nicht einmal jeden dritten Antrag genehmigen. Sieben Ergebnisse aus der Recherche von Deutschlands größter Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer.

Kaum Jemand kennt das Opferentschädigungsgesetz

Weniger als ein Viertel der Menschen in Deutschland (76 Prozent) hat schon einmal vom OEG gehört. Das ergab eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag des WEISSEN RINGS im Frühjahr 2022. Sogar Menschen, die selbst Opfer einer Gewalttat geworden sind oder Betroffene im persönlichen Umfeld haben, wissen nichts von dem Recht, einen Antrag auf Entschädigung stellen zu können (70 Prozent). Diejenigen Befragten, die das Gesetz kennen, haben in erster Linie durch Medien oder im privaten Umfeld (71 Prozent) oder durch ihren Beruf oder ihr Ehrenamt (27 Prozent) davon erfahren. Nur 14 Prozent hingegen kennen das Recht auf Entschädigung, weil staatliche Institutionen sie informiert haben, zum Beispiel Polizei oder Gerichte.

Dabei wurde das OEG bereits 1976 vom Bundestag verabschiedet. Der Hintergrund: Der Staat hat die Aufgabe, seine Bürger vor Gewalttaten zu schützen. Da er dies nicht immer garantieren kann, entschädigt er Betroffene  wenn sie gesundheitliche Schäden erlitten haben. Dadurch sollen sie sozial abgesichert werden, so dass sie keine Sozialhilfe beziehen müssen, sondern einen Ausgleich für gesundheitliche und wirtschaftliche Folgen der Tat erhalten.

Eine Entschädigung erhält laut Gesetz, wer auf deutschem Staatsgebiet Opfer einer Gewalttat geworden ist, etwa einer Körperverletzung oder Vergewaltigung. Auch ausländische Staatsbürger haben ein Recht auf die gleichen Leistungen wie Deutsche, wenn sie in Deutschland eine solche Tat erlebt haben. Wer in Deutschland lebt und im Ausland Opfer wird, kann ebenfalls leistungsberechtigt sein, allerdings mit Einschränkungen. Der Kreis Berechtigter ist weit gefasst: Auch Zeugen einer Gewalttat, Angehörige von Opfern und Menschen, die nach der Tat vor Ort geholfen haben, können Leistungen erhalten, denn Zeugen können zum Beispiel sogenannte Schockschäden erleiden. Ebenso entschädigt der Staat etwa Eltern oder Kinder, wenn sie das Opfer auffinden oder durch die Nachricht über die Tat geschädigt werden. Hinterbliebene von Getöteten erhalten unter bestimmten Voraussetzungen staatliche Leistungen, etwa eine Witwen- oder Waisengrundrente.

Nur wenige Opfer stellen einen OEG-Antrag.

Wem Informationen zu seinem Recht auf Entschädigung fehlen, kann auch keine Leistungen beim Staat einfordern. Im Jahr 2021 gingen deutschlandweit nur 15.008 Anträge bei den zuständigen Versorgungsämtern ein. Das entspricht gerade einmal rund neun Prozent der 164.646 Gewalttaten, die das Bundeskriminalamt in der Polizeilichen Kriminalstatistik erfasst hat. Der Wert liegt seit Jahren auf diesem niedrigen Niveau.

Aber der „Antrag auf Leistungen für Gewaltopfer nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten“ selbst stellt offenbar eine Hürde für die Opfer dar. Er besteht aus acht Seiten: sechs Formblätter und zwei Zusatzblätter. Das Ausfüllen des Antrags, der einen Verwaltungsakt in Gang bringen soll, ist ein sehr persönlicher, emotionaler Vorgang. Manche Opfer versuchen, die Formulare allein auszufüllen, und berichten, dass sie damit schlichtweg überfordert sind. Andere schaffen es nur, weil sie Unterstützer haben, etwa Angehörige, Anwältinnen oder ehrenamtliche Opferhelfer. Vielleicht reichen Betroffene irgendwann einen ausgefüllten Antrag ein, vielleicht auch nicht: Es gibt keine Statistik darüber, wie viele Opfer einen OEG-Antrag anfordern, aus einer Behörde mitnehmen, aus dem Internet herunterladen – und ihn niemals abgeben.

Der Staat lehnt die meisten Anträge ab.

Die wenigen Gewaltopfer, die von dem Gesetz wissen und eine Entschädigung beantragen, gehen größtenteils leer aus, weil ihre Anträge in den zuständigen Behörden negativ entschieden werden. 2021 haben die Versorgungsämter bundesweit so viele Anträge abgelehnt, wie seit mehr als 20 Jahren nicht mehr: rund 47 Prozent.

Im selben Jahr wurden nur rund 28 Prozent anerkannt. Der Rest der Anträge bekommt in vielen Ländern den Stempel „erledigt aus sonstigen Gründen“. „Sonstige Gründe“ sind zum Beispiel der Tod des Antragstellenden, die Rücknahme des Antrags oder die Weitergabe des Falls an ein anderes Bundesland. Der WEISSE RING hat bei den Bundesländern nach den Gründen für Ablehnungen von OEG-Anträgen gefragt, die Rückmeldungen aus den meisten Ländern sind fast wortgleich: Die Gründe für eine Ablehnung werden statistisch nicht erfasst. Manchmal wird fehlende „Mitwirkung“ als häufiger Grund genannt, mal der fehlende „Vollbeweis“, mitunter fehlende „Glaubhaftmachung“.

Für die Betroffenen bedeutet eine Ablehnung nicht nur, dass nicht offiziell anerkannt wird, dass sie unverschuldet Opfer geworden sind. Es bedeutet auch, dass dringend benötigte Entschädigung ausbleibt. Wie beispielsweise  Heilbehandlungen, Rentenzahlungen oder die sogenannten Leistungen der Kriegsopferfürsorge. Bei wem voraussichtlich länger als ein halbes Jahr einen Grad der Schädigungsfolgen von mindestens 25 Prozent festgestellt wird, hat ein Recht auf eine Grundrente. Bei den „Leistungen der Kriegsopferfürsorge“ geht es darum, wirtschaftliche Nachteile auszugleichen, beispielsweise indem eine Berufsausbildung oder ein Studium unterstützt wird.

Fachleute loben das Gesetz und den Leistungskatalog als „hervorragend“, allerdings kommt das alles bei den Opfern kaum an.

Die Erfolgsaussichten hängen vom Bundesland ab

Die Entscheidung über OEG-Anträge ist Ländersache – und die Zahlen, die der WEISSE RING jährlich in den einzelnen Bundesländern abfragt, klaffen mitunter weit auseinander. Besonders schlecht standen die Chancen auf eine Anerkennung im vergangenen Jahr im Saarland, wo in rund 62 Prozent der Fälle mit einer Ablehnung entschieden wurde, und Schleswig-Holstein (61 Prozent). Etwas hoffnungsvoller war die Situation für Gewaltopfer dagegen in Brandenburg und Sachsen-Anhalt, dort gab es in rund 37 Prozent der Fälle Anerkennungen.

 

Die OEG-Verfahren sind eine Belastung für die Opfer.

Haben Betroffene einen Antrag nach dem OEG gestellt, finden sie sich häufig in zermürbenden Verfahren wieder. Oft dauert es lange, bis dringend notwendige finanzielle Entschädigungen bewilligt werden: Bis zur Anerkennung oder Ablehnung verstreichen im Schnitt zwischen 12 und 18 Monaten, wie aus Angaben derjenigen Bundesländer hervorgeht, die die Bearbeitungszeit erfassen. Einige Länder tun das nicht.

Das Verfahren stellt sich für Betroffene häufig als „Papierflut“ dar. Ein Missbrauchsopfer sagt: „Die psychische Belastung, Briefe zu öffnen, ist immens.“ Andere schicken ihre Partner an die Briefkästen oder leiten die Schreiben ungelesen an ihren Anwalt weiter, sofern sie denn einen der wenigen Juristen gefunden haben, die sich wirklich mit dem OEG auskennen.

Der Staat nimmt die Antragstellenden zudem in die Verantwortung, die Tat zu beweisen. Es können schriftliche Rückfragen folgen, Gesprächstermine zur Erläuterung des Sachverhalts in der Behörde, Befragungen durch Gutachterinnen. Viele Opfer berichten, dass das für sie psychisch nur schwer zu ertragen ist.

Die für Gewaltopfer in OEG-Verfahren wichtigste Frage lautet: Glaubt man mir? Eine Entschädigung erhalten sie nur, wenn drei Dinge nachweisbar sind: die Gewalttat, die gesundheitliche Schädigung und der Zusammenhang zwischen Tat und Schädigung. Die Behörden sollen zwar selbst ermitteln, Antragsteller haben aber eine sogenannte Mitwirkungspflicht. Für die Überprüfung der Glaubhaftigkeit der Opferaussagen können Behördenmitarbeitende die Betroffenen befragen oder ein psychologisches Gutachten in Auftrag geben – es sind Termine, bei denen Opfern eine erneute Traumatisierung drohen kann. „Nächtelang nicht geschlafen“ habe sie vor dem Gutachtertermin, sagt ein Opfer aus Bayern. Zu groß sei die Sorge gewesen, ob der Psychologe es als glaubwürdig einschätzen würde.

Der Verwaltungsakt nimmt kaum Rücksicht auf traumatisierte Menschen.

„Opfer von Straftaten sollten als solche anerkannt und respektvoll, einfühlsam und professionell behandelt werden“, heißt es in der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten. Demgegenüber steht das, was Behördenarbeit in deutschen Versorgungsämtern bedeutet: Prüfen und Beurteilen, ob die Opfer die Voraussetzungen für den Bezug von Entschädigungsleistungen erfüllen.

Die Kommunikation von Behörden nehmen Betroffene häufig als unsensibel wahr, etwa wenn sie Schreiben voller Paragrafenzeichen und Belehrungen erhalten, in denen Sätze stehen wie: „Im Rahmen der Beurteilung der Glaubhaftigkeit ist zu beurteilen, ob das, was Sie schildern, auf tatsächlich Erlebtem beruht.“ Oder: „Teilen Sie uns bitte schriftlich mit, falls Sie Ihren Antrag (…) zurücknehmen wollen. Andernfalls werden Sie eine Einladung zur psychiatrischen Begutachtung erhalten, der Sie dann in Ihrem eigenen Interesse bitte unbedingt folgen sollten, um nachteilige Auswirkungen zu vermeiden.“

Ein Opfer aus Niedersachsen, das einen Mordversuch überlebt hat, sagt: „Ich empfinde den Ton als drohend.“ So kommt es, dass Gewaltopfer unabhängig voneinander oft dieselben Worte benutzen, wenn sie über ihre OEG-Verfahren sprechen: Kampf, Ohnmacht, Machtmissbrauch.

Für die Beamten und Beamtinnen in den Behörden gibt es mehr als 45 Jahre nach der Verabschiedung des OEG kein einheitliches und verbindliches Schulungskonzept für einen sensiblen Umgang mit verletzten und oftmals traumatisierten Betroffenen. Rückmeldungen aus den Ländern zeigen, dass die Anforderungen, dem Job aus Behördensicht gerecht zu werden, vielerorts niedrig sind: Im Saarland etwa gehen Mitarbeitende „aufgrund ihrer Arbeits- beziehungsweise Lebenserfahrung sensibel mit den Antragstellern um“. Mecklenburg-Vorpommern teilt mit: „Alle Mitarbeitenden sind aufgrund ihrer zum Teil langjährigen Tätigkeit in der Versorgungsverwaltung und insbesondere im Fachbereich Soziales Entschädigungsrecht für den Umgang mit traumatisierten Antragstellenden sensibilisiert.“ Die Berliner Behörde fasst das Problem zusammen: „Der Kontakt zu den Antragstellenden ist respektvoll und empathisch, dennoch ist es Wille des Gesetzgebers, den Sachverhalt zu ermitteln und den ursächlichen Zusammenhang der geltend gemachten Gesundheitsstörung mit dem schädigenden Ereignis verwaltungsseitig zu prüfen. Es ist nicht auszuschließen, dass es hierbei für die Betroffenen zu belastenden Wiedererinnerungen kommt.“

Die Datenlage ist zu lückenhaft, um Verbesserungen zu erarbeiten.

Bis heute gibt es keine validen Erkenntnisse rund um das Thema Opferentschädigungsgesetz. Das fängt an bei der Anzahl der Mitarbeitenden in den Versorgungsämtern, auf Anfrage des WEISSEN RINGS machten die Bundesländer dazu teilweise keine Angaben – oder sie teilten einschränkend mit, dass in den Abteilungen neben den OEG-Anträgen auch andere Aufgaben bearbeitet würden. Ohne Einschränkungen heißt es dagegen aus dem Saarland: „OEG-Anträge werden hier von zwei Mitarbeiter* innen bearbeitet.“ In Sachsen sind es zwölf, in Berlin 31, in Bayern 70 Vollzeitkräfte. Wer aber was genau leistet und ob das im Verhältnis zur Antragszahl ausreichend ist, lässt sich nicht nachvollziehen. Am deutlichsten wird das Informationsdefizit allerdings bei eingehender Analyse des Materials, das der WEISSE RING bei den Länder eingeholt hat: Es werden unterschiedliche statistische Daten erhoben – oder gar keine. Zudem fehlen wissenschaftliche Untersuchungen dazu, wie die Verfahren ablaufen und wie lange sie im Durchschnitt dauern. Insbesondere aber gibt es keine aussagekräftigen Befragungen von Betroffenen.

Wer die Statistiken zum OEG auswertet, wer mit Betroffenen spricht, mit Anwälten, Therapeutinnen, Wissenschaftlern und Opferhelferinnen, kommt zu dem Schluss, dass das OEG ein Gesetz mit einem hervorragenden Leistungskatalog sein mag – dass es bei der Umsetzung aber mächtig knirscht. Schlimmer noch: In vielen Fällen macht das Gesetz Opfer, denen es Hilfe verspricht, erneut zu Opfern.

Quelle: Eine Zusammenfassung einer Recherche des WEISSEN RINGS, die im Magazin „Forum Opferhilfe“ und unter www.forum-opferhilfe.de/oeg veröffentlicht wurde.

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Über den Autor: Redaktion Prosecurity

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