Vor einem Herbst der Gelbwesten?

„Droht eine Zeit radikaler Proteste?“ Eigentlich eine Frage, wie sie in vielen Jahren gestellt werden konnte. Aber nun bekommt sie eine andere Dimension und Brisanz.

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20.10.2022

„Droht eine Zeit radikaler Proteste?“ Diese Frage stellte die „Tagesschau“ Anfang August. Eigentlich eine Frage, wie sie in vielen Jahren gestellt werden konnte. Aber nun bekommt sie eine andere Dimension und Brisanz. Das gefährliche Gemisch, das Fachleute als Treibstoff für die „soziale Zerreißprobe“ („Handelsblatt“) sehen, heißt: Krise, Krieg und Corona. Zweifelsohne fehlt in dieser Aufzählung ein noch weiterer Punkt: Der rapide Vertrauensschwund in die Politik und nun auch – spätestens seit dem Fall der ARD-Chefin und rbb-Intendantin Patrizier Schlesinger – in die Medien.

Der Skandal kommt für die Regierenden zur Unzeit. Die ohnehin seit geraumer Zeit beschworene Politikverdrossenheit hat neues Futter bekommen. Man sorgt sich um die innere Sicherheit. Zu Recht. Aber sind die Antworten adäquat? Der Teufel – verkleidet als Extremismus – wird an die Wand gemalt.

„…mit welcher Einseitigkeit…“

„Die Affäre trifft auf eine Öffentlichkeit, die immer weniger bereit ist, widerspruchslos hinzunehmen, mit welcher Dreistigkeit sich einzelne Repräsentanten in diesem System bedienen und mit welcher Einseitigkeit in Teilen der öffentlich-rechtlichen Sender berichtet und kommentiert wird“ twitterte der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz. Zwischen den Zeilen zu lesen, dass sich auch Merz von dieser Entwicklung betroffen fühlt. Sie beraubt alle etablierten Parteien eines langjährig bewährten Mediums. Merz schlussfolgert: „Schaut man in diesen Tagen in die sozialen Medien und Leserbriefspalten, wird klar: Die Schlesinger-Affäre hat das Potenzial, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland endgültig die Legitimationsgrundlage und öffentliche Akzeptanz zu entziehen.“

Mit dem Wörtchen „endgültig“ deutet der Oppositionsführer hier an, dass man es mit einer seit langem vor sich gehenden Erosion der Grundlagen der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten zu tun hat. „Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat seine Akzeptanzkrise selbst verursacht, ist er doch teuer, altmodisch, einseitig und seicht. Ist dieses System aus politischen Partei-Interessen nicht schlichtweg zu staatsnah, wie es das Verfassungsgericht bereits angemahnt hat? Eine Reform ist nötig“, mokierte sich „Focus“ vor knapp zwei Jahren.

Kalte Temperaturen, gekühlter Sekt

„Leute wie Schlesinger sind verantwortlich, dass 84 Prozent der Deutschen keine Rundfunkgebühr mehr zahlen wollen. Wer solche Abzocker gewähren lässt, zerstört ARD und Co.“, schimpfte auch die Bild-Zeitung, die ansonsten der öffentlich-rechtlichen Konkurrenz nicht immer gewogen ist. Und für den Piloten Merz scheint der Point of no Return gekommen: „Die ARD, aber auch das ZDF, haben jetzt eine der vielleicht letzten Gelegenheiten, zu zeigen, dass sie in der Lage sind, Fehler aus eigener Kraft zu korrigieren und Veränderungen auf den Weg zu bringen, die dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk insgesamt wieder eine breitere Akzeptanz in der Bevölkerung zurückgeben.“

Angesichts der desolaten Lage mag sich so mancher an die Worte des eisernen Kanzlers, Otto von Bismarck, erinnern, der dereinst feststellte: „Das Vertrauen ist eine zarte Pflanze; ist es zerstört, so kommt es sobald nicht wieder.“ Dass für das allerseits prognostizierte tiefe Tal, das die Menschen dieses Landes in den kommenden Monaten wohl durchschreiten müssen, ein Bewusstsein einer Schicksalsgemeinschaftsmannschaft vonnöten wäre, ist kaum zu leugnen. In einer Gesellschaft jedoch, in der die einen von Kosten und Temperaturen kalt erwischt werden, andere jedoch nur darüber nachdenken, ob der Schampus kaltgestellt ist, wird ein solches Band nicht zu schmieden sein.

Verfassungsschutz: Befürchten Wutwinter

„Wir haben es aber nach der Pandemie und den Weltgeschehnissen der letzten Monate mit einer hoch emotionalisierten, aggressiven, zukunftspessimistischen Stimmung in der Bevölkerung zu tun, deren Vertrauen in den Staat, seine Institutionen und politisch Handelnden zumindest in einigen Teilen von massiven Zweifeln behaftet ist“, mit diesen Worten fasste der thüringische Verfassungsschutz-Präsident Stephan Kramer gegenüber dem ZDF die aktuelle Situation zusammen.

„Mein Kollege Müller aus Brandenburg“, so Kramer weiter, „hat sehr treffend von einem sogenannten Wutwinter in der Szene gesprochen, den man sich herbeiwünscht. Das ist genau das, was auch wir registrieren und derzeit beobachten.“

Der Fall Schlesinger ist jedoch nicht nur eine – wenn auch bezeichnende – Marginalie in der langen Kette dessen, was den Bürgern zugemutet wird. Er trifft einen wunden Punkt, den zentralen Nerv der Menschen. In einer Zeit, in der sich viele machtlos einer Politikmaschinerie ausgeliefert sehen, zerbröselt plötzlich der Strohhalm für viele Bürger. Die freie Presse ist bei vielen so etwas wie die letzte Hoffnung auf eine Rettung. Die Öffentlichkeit soll hergestellt werden, um offensichtliche Ungerechtigkeiten anzuprangern und vielleicht sogar aus der Welt zu schaffen. Die Amtsführung von Frau Schlesinger hat wohl viele dieser Illusionen wie Seifenblasen platzen lassen.

Kirchen verlieren Einfluss

In diesem Zusammenhang muss auch – selbst wenn es juristisch nicht angreifbar ist – die Teilnahme an dem privaten Treffen mit Frau Schlesinger (wenn gar mit Sendermitteln, das heißt den Gebühren der Hörer und Seher) und der Berliner Polizeipräsidentin Dr. Barbara Slowik gewertet werden. Der man in diesem Falle zumindest das Fehlen einer gewissen Sensibilität nachsagen kann. Was bleibt, unabhängig späterer sachlicher Bewertungen, von den Meldungen beim Bürger hängen, dass sich die oberste Polizeichefin mit einer im tiefen Strudel von Filz und Vetternwirtschaft verstrickten Mediendirigentin einen netten Abend gemacht hat? Frau Dr. Slowik muss sich die Frage stellen, ob etwas, was legal ist, letztlich auch legitim ist. Und jetzt hat sogar die Berliner Generalstaatsanwaltschaft den Fall Schlesinger an sich gezogen.

Der rbb müsse „verloren gegangenes Vertrauen wiedergewinnen, die Führungsspitze des Senders muss ihre Glaubwürdigkeit zurückerlangen, das wird ein langer Weg“, sagte Friederike von Kirchbach, die seit 2013 als Vorsitzende den Rundfunkrat des rbb leitet. Die Pröpstin der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, von Kirchbach, wird sicher auch das Ansehen der Kirche im Auge haben. Der erdrutschartige Mitgliederschwund bei den Katholiken zeigt auf eine weitere Schwachstelle. Die Kirchen, die gerne als Heimstatt der Lauterkeit für Arm und Reich gesehen werden wollen, haben noch weit mehr ihren öffentlichen Kredit verspielt und kommen als moralische Wärmestuben für die übergroße Mehrheit der Bevölkerung kaum in Frage.

Hinzukommt, dass die Ertappten kaum geneigt sind, das Büßerhemd zu tragen. Trotzige Arroganz schlägt denjenigen entgegen, die Aufklärung fordern. Die „Süddeutsche Zeitung“ fasst zusammen: „Schon seit erste Berichte über Schlesingers mögliche Verfehlungen, über rabattierte Dienstwagen, falsch abgerechnete Essen in ihrer Privatwohnung oder Beraterverträge im Zusammenhang mit dem geplanten digitalen Medienhaus des RBB veröffentlicht wurden, wirkte Schlesinger eher trotzig denn aufklärungswillig. Die Sondersitzung des Brandenburger Landtags, wo über ihren Fall debattiert werden sollte, schwänzte sie.“

Politiker mit Altlasten

Die Hoffnung, eventuell in der Politik die eine oder andere Vertreterin resp. Vertreter zu finden, der sich auch für die Interessen der „einfachen“ Bürger ins Zeug legen wird, scheint seit langem geschwunden. Die Berliner Bürgermeisterin Franziska Giffey trifft bei der Mehrheit der Bevölkerung auf Kritik und Ablehnung. Zwar war sie im Mai 2021 infolge der Affäre um ihre Dissertation, die ihr den Doktortitel kostete, als Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zurückgetreten, das hatte sie jedoch nicht daran gehindert – mit Rückenwind ihrer Partei, der SPD – sich für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin zu bewerben. Der desaströse Ablauf der Wahlen in Berlin, der zu teilweisen Neuwahlen führt, kann nur als weiterer Punkt in der allgemeinen Demokratieskepsis gewertet werden.

Sogar Giffeys Ziehvater, der SPD-Politiker Heinz Buschkowsky, scheint inzwischen auf Distanz zu seinem Schützling gegangen zu sein, als er gegenüber der Presse betonte, man sage ihr „eine gewisse Karrieregeilheit nach.“ Eine Mentalität, die in weiten Kreisen der gesellschaftlichen Oberschicht, eine auf Werten basierende Politik abgelöst hat. Auch der Bundeskanzler konnte vor allem durch sein eingeschränktes Erinnerungsvermögen den unangenehmen Fragen zu seinen Verwicklungen in die sogenannten Cum-ex-Geschäfte während seiner Zeit als Erster Bürgermeister von Hamburg ausweichen. Auch ihm verdunkelt die Vergangenheit die Strahlkraft als Lichtgestalt in kommenden Krisenzeiten.

Gelbwesten auch in Deutschland

So wird nunmehr spekuliert, in welcher Form sich die Proteste und der Widerstand gegen die Politik artikulieren werde. Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, vertrat gegenüber dem „Handelsblatt“ die Meinung: „Die gegenwärtige Krise könnte der letzte Tropfen sein, der das Fass der zunehmenden sozialen Spaltung zum Überlaufen bringt.“ Bewegungen wie die Gelbwesten in Frankreich seien auch in Deutschland möglich.

In den deutschen Medien wurden die Proteste, deren Markenzeichen die gelben Warnwesten (französisch: Gilets Jaunes) wurde, eher marginalisiert und aus der täglichen Berichterstattung herausgehalten. „Vom 17. November 2018 bis Juni 2019 randalierten die Gelbwesten im ganzen Land“, schreibt das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ im September 2020. Und er fügt hinzu: „Auslöser für die Proteste war eine Kraftstoffsteuer, die Präsident Macron einführen wollte. Sie traf vor allem die sozial Schwächeren, die weitab der großen Städte wohnen und auf ihr Auto angewiesen sind. Aber im Laufe der Monate gab es immer mehr Forderungen von Senkung aller Steuern bis zur Erhöhung der Renten.“ Die Gelbwesten-Proteste gingen schließlich in der Corona-Krise unter.

Jeder Zweite will auf die Straße gehen

So sehr sich die Inhalte wie die Form der Demonstrationen der Gelbwesten von denen der hiesigen Gegner der Corona-Politik unterscheiden mochten, so einte sie die radikale Ablehnung der Medien und ihr Hass auf Journalisten. Ein Virus, der sich dem Schlesinger-Skandal bei uns auszubreiten droht.

„Fast jeder zweite Bundesbürger“, schreibt die „Berliner Zeitung“, „will wegen der hohen Energiepreise auf die Straße gehen, wenn es zu Demonstrationen kommt. Laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa sagten 44 Prozent aller Befragten, sie würden „sicher oder mit großer Wahrscheinlichkeit an Demonstrationen gegen die hohen Energiepreise teilnehmen“, wird „Bild“ zitiert. Auffällig: Rund 50 Prozent der FDP-Wähler „halten Proteste offenbar für notwendig und wollen an solchen Demos teilnehmen“, wie es heißt. Dabei war die FDP bei den Jungwählern zur Bundestagswahl noch der Renner gewesen. Der Wind dreht sich schnell in diesen Zeiten.

Die auslösenden Faktoren der Gelbwesten-Proteste in Frankreich klingen jedoch wie eine leise Ouvertüre zu dem was demnächst in Deutschland orchestriert werden soll – und wahrscheinlich auch wird. Deshalb sind Fratzschers mahnende Worte ernst zu nehmen. „Explodierende Mieten und ein steigendes Armutsrisiko in den letzten zehn Jahren, eine Spaltung bei Bildung und Gesundheit in der Pandemie und nun bei der Inflation könnte Deutschland vor eine soziale Zerreißprobe stellen“, befürchtet DIW-Chef Fratzscher. Auch andere Wirtschaftsführer zeichnen ein düsteres Bild. Deutsche-Bank-Chef Christian Sewing warnte laut „Handelsblatt“ im Juli auf einer Bankenkonferenz in Frankfurt, es bedrohe den sozialen Frieden in Deutschland, wenn in Umfragen 40 Prozent der Menschen angäben, sie könnten am Monatsende nicht mehr sparen. Die Lage könnte sich noch verschärfen.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser gibt sich entspannt. In einer Talkrunde des Redaktionsnetzwerkes Deutschland bekannte sie: „Ich glaube nicht an Wutbürger und auch nicht an Gelbwesten-Proteste.“ NRW-Innenminister, Herbert Reul (CDU), verteilt inzwischen bereits die Etikettierung an die möglichen Protestierer. Er habe Sorge, so der Sender ntv, dass die Stimmung im Land schlechter wird und dass Themen wie der russische Krieg gegen die Ukraine, die Energiekrise und steigende Preise den Verschwörungsgläubigen neue Nahrung geben. „Es geht jetzt nicht mehr um Protestler, sondern es geht fast um so was wie neue Staatsfeinde, die sich da etablieren“, sagte er im „Frühstart“ von ntv.

Personalkarussell keine Lösung

In dieser Situation ist das Gebot der Stunde, die Lage zu entschärfen. Man muss dem Thüringischen Verfassungsschutzchef Kramer recht geben, wenn er – wie im Gespräch mit ZDFheute.de – die Auffassung vertritt: „Das Vertrauen der Bevölkerung in die staatlichen Institutionen und Behörden wird meines Erachtens entscheidend dafür sein, ob der soziale Frieden erhalten bleibt und wir diese Krise gemeinsam bewältigen.“ Diese Erkenntnis bleibt jedoch Allgemeinplatz, wenn die Umsetzung nicht konkret benannt und konsequent angegangen wird. Einmal kräftig am Personalkarussell zu drehen, mit der Hoffnung, jetzt die „richtigen“ Leute für die Ämter zu finden, ist mit Sicherheit eine wenig erfolgversprechende Idee.

Zweifellos hat das Land schon manche Krise und den einen oder anderen Skandal überstanden. Eine weitgehende Kontinuität des persönlichen Besitzstandes und vielleicht auch die Chance auf einen Zuwachs haben die Volksseele immer wieder im Zaum gehalten. Auch die vermeintliche oder tatsächliche Bedrohung während des Kalten Krieges schaffte so etwas wie eine übergeordnete Raison.

Die sich nun abzeichnende Lage steht unter einem anderen Stern. Und die Bedingungen haben sich geändert. Die bisher meinungsmachenden Medien büßen immer mehr an Einfluss ein. Der Blick auf die eigene Perspektive und das Verhalten der Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft wird differenzierter. Fehlverhalten wird schärfer wahrgenommen.

Trigema-Chef Wolfgang Grupp prangert wohl deshalb nicht ganz ohne Grund, Verantwortungslosigkeit und Gier unter seinen „Kollegen“ an, wenn er im Gespräch mit der „Mainpost“ kritisiert: „Heute hört man oft: ‚Kein Problem, ich habe schon dreimal Insolvenz gemacht, es geht mir gut.‘ Wenn das so weitergeht, werden wir ein Desaster erleben.“

Die Gewerkschaften, Jahrzehnte für ihre Tätigkeit als SPD-gelenkte Ordnungsmacht gelobt, gehen mehr und mehr ihres Einflusses verlustig. Schon die französischen Gelbwesten haben gezeigt, dass auch ohne organisatorischen Kern eine Massenbewegung entstehen kann, die in der Regierung für weiche Knie sorgt.

Wenn diese nicht für einen sozial ausgewogenen Ausgleich der Belastungen sorgt, steht es um die innere Sicherheit nicht gut. Und am Ende könnte die Regierung sogar in die Knie gehen.

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Über den Autor: Peter Niggl

Peter Niggl, Journalist und Chefredakteur der Fachzeitschrift Security Insight